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Deutschland Archiv 4/1996, pp. 587

Er traf den Nerv

Die Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz im August 1976 und die Folgen

Karl-Adolf Zech, Berlin

Vor 20 Jahren, 1976, erlebte Zeitz einen für die scheinbar total kontrollierte DDR außergewöhnlichen Protest. Ein Pfarrer aus der Umgehung, Oskar Brüsewitz, verbrannte sich öffentlich.

Dieser Beitrag erinnert daran und beschreibt aus persönlicher Sicht die Folgen, die sich aus einem vorsichtigen Durchbrechen von verordneter Unmündigkeit, von erwartetem Schweigen und Wegsehen im Zusammenhang mit dieser Tat ergeben konnten.1 Er versucht damit, etwas von dem Lebensgefühl in der verflossenen Diktatur zu vermitteln, das den altbundesrepublikanischen Mitbürgern so schwerverständlich zu machen ist und dessen Auswirkungen noch lange nachwirken werden.

Anhand der heute auswertbaren Unterlagen wird manches Detail der Arbeitsweise des DDR-Repressionsapparates, besonders auch der Linie XVIII der Staatssicherheit 2 , sichtbar.

 
DA-Heft JUli/Aug 1996

 

 

 

1 Für die Bereitstellung von Unterlagen und Informationen danke ich Christa Brüsewitz und ihrer Tochter Esther Fröbel, sowie Herrn Schober (Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes [BStU], Abt. Bildung und Forschung [BF]; dem Dokumentarfilmer Thomas Frickel, Pfarrer Rudi Pahnke, dem Landesarchiv Berlin, dem Bundesarchiv Berlin und Potsdam. Mein Beitrag >,Die Angst vor dem toten Landpfarrer« in Heft 2/1996 von Horch und Guck« geht ausführlicher auf die Folgen jener Protestaktion ein und gibt zahlreiche Foto- und Textdokumente wieder.

2 Vgl. Franz-Otto Gilles/Hans-Hermann Hertle: «Sicherung der Volkswirtschaft«, DA 1/1996, S. 48 ff.

 

 

Kirchen im SED-Staat

Dass die kleinen Kirchen in der DDR der große Angstgegner von SED und Staatssicherheit waren, ist bekannt und belegt. Gleichwohl standen sie auch von anderen Seiten unter starker Kritik: Manchem Christen waren sie zu angepasst an den SED-Staat, kritischen kirchlichen und nichtkirchlichen Gruppen zuwenig deutlich, zu schweigsam, zu kooperativ. Besonders nach der »Wende« schlugen die Wogen der Kritik hoch; es kam gar zu einem Vergleich von Ost-Kirchenleitungen mit den »Deutschen Christen«, der nazi-ergebenen Kirchenparteiung.3 Richard Schröder charakterisierte dieses Wechselbad mit den Worten: »Zuerst zuviel der Ehre, dann zuviel der Schande.«

Am 18. August diesen Jahres jährt sich zum zwanzigsten Male ein Ereignis, das wie kein anderes für diesen Widerstreit steht: die Selbstverbrennung des evangelischen Pfarrers Oskar Brüsewitz vor der Michaeliskirche in Zeitz. Diese Tat und ihre Folgen zeigten auch ein weiteres: Die ideologischen, taktischen oder Gewalt anwendenden Mittel einer totalitären Macht können dort an ihre Grenze stoßen, wo sich Christen vor eine klassische Bekenntnissituation gestellt sehen. Sie zeigt auch, welche Bedeutung Symbolhandlungen - schon bei den alten jüdischen Propheten beliebt - in erstarrten Strukturen haben können.

Das Herrschaftssystem der DDR basierte auf einem scholastischen Prinzip. Geschriebenes war zitierfähig, und das hatte Wahrheitsanspruch. Alle Erkenntnis war auf die »Klassiker« und ihre heutigen Exegeten zurückzuführen. Man musste nur dafür sorgen, dass das Geschriebene den aktuellen Parteizielen entsprach. Das ist auch ein Grund dafür, dass die »immer recht« habende SED sich derart vor westlichen Medien ängstigte, aber eben auch vor öffentlicher Meinungsäußerung im eigenen Lande, gesprochen oder geschrieben, etwa als Flugblatt. Ohne staatliches Einschreiten, ohne Tabuisierung, wäre es zitierfähig gewesen und hätte Fragen provozieren können, auf die die Macht keine Antwort hatte.

Es gab in der DDR einen einzigen öffentlichen Bereich, in dem man »nicht sagen musste, was man nicht dachte«4: die Kirchen. Und ganz unabhängig davon, oh sich manche von ihnen zuzeiten gefügiger, angepasster verhielten oder nicht, war ihre bloße Existenz schon ein hochpolitischer Faktor, auf den die SED stets besonders zu achten hatte. Das sage ich auch gerade deshalb, weil sich meine christliche Sozialisation in der nicht unproblematischen Thüringer Kirche vollzog. Innerkirchlich gab es natürlich ein breites Spektrum von Positionen in der Frage, wie weit der Dienst der Kirche in Öffentlichkeit hineinzugehen, auf welche Weise er Öffentlichkeit überhaupt wahrzunehmen habe.

   

 

 

 

 

3 So Hubertus Hoffmann, damaliger Vorsitzender des Journalisten-Bildungsinstitutes Sachsen-Anhalt e.V., auf einem Symposium zu Brüsewitz in Halle, am 5. 10. 1993.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4 Vgl. Reiner Kunze, Die wunderbaren Jahre, Frankfurt am Main 1976, das Gedicht »Orgelkonzert«.

 

 


Oskar Brüsewitz

Oskar Brüsewitz war ein Mann der Öffentlichkeit. Er liebte demonstrative Handlungen, wenn er damit »Jesus ins Gespräch« bringen konnte. Das zeigte sich schon vor Beginn seines Theologiestudiums, das er 1964 aufgenommen hatte. Wenn er am Tage einer »Volkswahl« in eine Kneipe neben dem Wahllokal ging und rief: »Ich habe schon gewählt: Jesus Christus«, war das eine Demonstration, die zwar dem Inhalt nach nicht politisch, aber wegen der zur Schau gestellten Unabhängigkeit dennoch politisch brisant war.

Seine Theologie und seine Rhetorik lebten vom »siegreichen Christus«, von einer Siegeskirche. Hatte er manchmal den bespuckten, getretenen und schließlich gekreuzigten Jesus verdrängt und mehr den Triumphator vor Augen, den siegreichen »General«, dem die jubelnden Massen beim Einzug in Jerusalem den Weg bereiteten? Will man Brüsewitz in seiner offensiven, militanten Theologie verstehen, so muss man wohl seine Herkunft aus Litauen berücksichtigen. Vielleicht beschreibt Johannes Bobrowski in »Litauische Claviere« ein wenig seine Wurzeln.
Den Propagandalosungen der SED begegnete Brüsewitz mit geistreichen Gegensprüchen, oft mit Bibelzitaten. So war seine Antwort auf »25 Jahre DDR« am Schulgebäude das Transparent: »2000 Jahre Kirche Jesu Christi«. Ein solcher Mensch passte nicht ins System, musste die Staatsmacht herausfordern.

 

   
 

Beschwerlich für Kirche und Staat

Brüsewitz fiel den staatlichen Überwachern bereits 1956 in Leipzig und später ah 1960 in Weißensee /Thüringen auf. Auch in Weißensee hatte er es mit Staatsvertretern zu tun, die ihm feindselig begegneten. Wie man den Stasi-Unterlagen leicht entnimmt, waren sie ihm geistig kaum gewachsen.5 Nur einer taucht immer wieder auf, der wohl verstand, worüber gesprochen wurde: der Geheime Stasi-Mitarbeiter (GM-, alte Nomenklatur für höherkarätigen IM) »Eckstein« - ein Pfarrer.

Brüsewitz verglich die örtlichen »1000-prozentigen Funktionäre« mit den »kleinen Hitlers« der Nazizeit, den Bürgermeister, ein arger Widersacher, nannte er einen alten Nazi. Die Stasi-Berichte zitieren immer wieder Aussagen wie die, dass die Kirche den Sozialismus überleben werde. Dem Bürgermeister kündigte er an, dass er eines Tages aufwachen werde und es gebe keinen Marxismus mehr. Ein IM-Bericht warnt, Brüsewitz wolle ein »frohes Jugendleben« in Weißensee aufbauen, um die Jugendlichen für die Kirche zurückzugewinnen, was er als seine Lebensaufgabe ansehe. 1962 resümierte die Stasi, es sei ihm gelungen, »einen großen Anhang von Jugendlichen und Schulkindern« für die Junge Gemeinde zu gewinnen. Er besuchte auch FDJ-Versammlungen, um dort junge Menschen anzusprechen.

Um seine Verhaftung vorzubereiten, wurde das Material 1964 an die Erfurter Stasi-Abteilung IX zur politischen und rechtlichen Einschätzung übergeben. Deren Antwort war wenig schmeichelhaft für die Ortsgewaltigen. Als »zumindest unklug« bezeichnet der Bericht die nach Brüsewitz' langem Kampf um eine Gewerbeerlaubnis für sein Schuhmacherhandwerk erteilte, ablehnende Antwort des Vorsitzenden des Rates des Kreises Sömmerda: »Wir kriegen Sie schon dahin, wohin wir Sie haben wollen.« - Ob er wusste, was er da sagte? IM-Pfarrer »Eckstein« empfahl jedenfalls, Brüsewitz solle den Gewerbeschein bekommen, denn beim Evangelisieren »stiftet er nur Unruhe, wird beschwerlich sowohl für die Kirche als auch. für den Staat«.

Der Bericht kritisiert auch, dass eine Analyse der Stimmung in der Bevölkerung fehle, und endet mit der Schlussfolgerung, dass Brüsewitz zunächst zu isolieren sei.6 Die »Analyse« wurde umgehend nachgeholt: Die ausgeschwärmten Informanten erwarteten, dass im Falle einer Inhaftierung von Brüsewitz hei der Bevölkerung »mit keinerlei negativen Reaktionen« zu rechnen sei - allenfalls bei kirchlich orientierten Bürgern. Im Oktober 1964 berichtete »Eckstein« von der Entscheidung des Superintendenten, dass Brüsewitz nicht mehr ohne Ausbildung evangelisieren solle.

Die Aufnahme eines Studiums am Predigerseminar Erfurt bewahrte Brüsewitz offenbar vor der geplanten Inhaftierung. Seine Vorlauf-Operativ-Akte wurde archiviert, weil die Stasi Sömmerda nun ihre Arbeit nicht mehr fortsetzen konnte. Bevor das im März 1965 geschehen war, lieferte die Erfurter Stasi-Abteilung XX/4 noch einen Bericht: Der böswillige Schreiber war ein Mitseminarist, der eine Weile mit ihm das Zimmer teilte, der GM »Helmut«. War Brüsewitz' Empfindung falsch, er sei von Partisanen umgehen?

 

   

 

 

5 BStU, Vorlauf-Operativ »Oskar Brüsewitz«, 8V Erfurt, VLA/AOP 504/65.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

6 »Um das Material realisieren zu können [sic!] und damit einen politischen Erfolg zu erzielen, muss Brüsewitz in der Gemeinde erst einmal politisch isoliert werden. Dazu ist es notwendig, dass die gesellschaftlichen Organisationen gegen Brüsewitz in die politische Offensive kommen. Er muss entlarvt werden, damit er nicht in den Augen der Menschen als Märtyrer für seine religiöse Idee steht.« (Ebd., S. 97)

 

Im Kirchenkreis Zeitz

Ich lernte Oskar Brüsewitz Anfang der siebziger Jahre kennen. Ein Freund von mir, Dietmar Meckel, hatte eine Pfarrstelle in Zeitz-Aue bekommen. Ich hielt mich an vielen Wochenenden dort auf, um Aufbauarbeit am Pfarrhaus zu leisten. Oft kam Brüsewitz zu einem Kurzbesuch vorbei. Es gab immer viel zu erzählen, über ihn, über seine neuesten Ideen und Aktionen in und um Rippicha, der Pfarrstelle, die er nach der Predigerausbildung bekommen hatte. Unser Freundeskreis, der sich zweimal im Jahr in Zeitz traf, nahm diese Geschichten mit Heiterkeit auf, aber man diskutierte auch mit ihm über Ziele und Wege.

Als Dietmar Meckel 1972 auf dem Pfarrgrundstück seine Hochzeit »öffentlich« feierte, war es Brüsewitz, der sich um die Kinder kümmerte. Er stellte zwei Fußballmannschaften auf, »DDR« und »BRD«, feuerte sie an und spielte dann selbst lautstark mit, im weißen Hemd auf dem staubigen Gelände.

An den Rippichaer Kirchturm hatte Brüsewitz ein großes Neon-Leuchtkreuz anbringen lassen, das nachts weithin zu sehen war. Dieses öffentliche, christliche Zitat widersetzte sich dem Alleinherrschafts- und Öffentlichkeitsanspruch der SED-Theokratie.7 Die dümmsten Begründungen wurden eingesetzt, um das Kreuz herabzuholen. Nach einer Androhung, es gewaltsam zu entfernen, erhielt Brüsewitz Hilfe bei seinen Amtsbrüdern. Die Stasi verübelte es diesen sehr, beim »Schutz der kircheneigenen Sichtagitation« mitgewirkt zu haben.8 Indes ließen ihn diese Gegenmaßnahmen nicht kalt. Er reagierte oft panisch, aggressiv, unkontrolliert. Als am Abend vor den »Volkswahlen« 1975 der Bürgermeister drohte, den von ihm angelegten »Evangelischen Kinderspielplatz« wegzubaggern, mussten ihn zwei Berliner Freunde nach seinem telefonischen Hilferuf beruhigen: Den einzigen Spielplatz im Ort vor den Wahlen wegzureißen, das hätten sie wohl nicht gewagt!

Seine einfallsreiche und engagierte Öffentlichkeitsarbeit vermochte es indes trotz einiger Anfangserfolge nicht, die Menschen in der weithin entkirchlichten Umgebung »wachzurütteln«, für Christus zu gewinnen, aus ihrer Lethargie und ihrer selbstverschuldeten, aber staatlich gewollten und gesteuerten Unmündigkeit zu reißen. Im Gegenteil. Nach anfänglichem Zulauf fühlten sich viele Menschen durch seine direkte, auch politisch recht unbekümmerte Art der Predigt kompromittiert. Für seine Symbolhandlungen und wenig traditionsgebundene Arbeitsweise konnten die Leute kaum Verständnis aufbringen. Es kam sogar zu Kirchenaustritten. »Was muß ich denn nun noch machen«, fragte er seine Kollegin Krien.9 1975 sprach er zu Freunden von einem Dreistufenplan. Er befragte eine Ärztin über Selbstverbrennung. An einem sommerlichen Freitag fuhr er in die nahe gelegene Kreisstadt Zeitz mit einem Pferdewagen, an dem er zwei Losungen angebracht hatte. Eine davon lautete: »Ohne Regen, ohne Gott, geht die ganze Welt bankrott« - ein Gegentext zu der früheren dummen SED-Parole »Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein«. Die Polizei stoppte ihn erst nach längerer Ratlosigkeit im Verkehrsgewühl und sprach eine kleine Strafe aus - wegen Verkehrsgefährdung. Die Demonstration frommer Texte wurde zum Stadtgespräch. Er wusste, dass ein Bibelspruch. in dieser Gesellschaft öffentlich vorgetragen, an der Machtfrage rüttelte und nannte dies den ersten Schritt seines Planes. 10

Brüsewitz wurde zunehmend zu einem Ärgernis in den Staat-Kirche-Beziehungen. Der Kirche wurde unverhohlen gedroht: Entschärfen Sie Brüsewitz, sonst müssen wir das Gesundheitswesen einschalten. Die Kirchenleitung hielt es in dieser Situation für angemessen, ihn aus der Schusslinie zu nehmen und ihm woanders einen neuen Anfang zu ermöglichen. Propst Bäumer besuchte Familie Brüsewitz, um diese Empfehlung auszusprechen, wobei er den staatlichen Druck nicht verheimlichte. Brüsewitz stimmte einem Pfarrstellenwechsel zunächst zu. Später jedoch wird ihm das wie Feigheit vor dem Feind vorgekommen sein. Dann muss ich die dritte Stufe meines Planes eben vorziehen, vertraute er jemandem an.

Später erfuhren wir, dass er am Tage vor seiner letzten Aktion mit der Familie an einen See fuhr und dort zum wiederholten Male in dem Buch Priester vor Hitlers Tribunalen von Kempner gelesen hatte, insbesondere das Bonhoeffer-Kapitel. In seiner Umgebung kursierte eine Broschüre von Heinrich Giesen, in der dieser den heutigen Christen Lauheit vorwirft; sie hätten den Todestag des Märtyrers Dietrich Bonhoeffer »in Sesseln« gefeiert, anstatt wie dieser »mitzubrennen« und würden Verbrennungsszenen den Buddhisten überlassen.11

 

   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

7 Bereits einige Jahre zuvor hatte er anlässlich einer Evangelisation bei Weißensee ein Neonkreuz an einer Kirche angebracht. Es wurde durch »Unbekannte« heruntergeschossen. Ebenso hatte man seine Plakate mit roter Farbe überschmiert.

 

 8 So berichtet Oberstleutnant Held, Zeitzer Stasi-Kreisdienststellenchef, am 22. 9. 1978 in einem Sachstandsbericht: »Spätestens seit September 1972 (...) beteiligt sich [der. ZIEBARTH] im Zusammenhang mit MECKEL und BRSEWITZ an bestimmten Aktionen, die sich eindeutig gegen die Maßnahmen unseres Staatsapparates richten. (z.B. »Schutz[«] der Kirche bzw. kircheneigener Sichtagitation in Rippicha durch Aufstellen von »Wachen« im Zusammenhang mit BRUSEWITZ, MECKEL, SCHWEIDLER und S weiteren Pfarrern).«-BStU, OV »Untergrund«, BV Halle, AOP 641/82, S. BStU 143.

 

9 Der hessische Dokumentarfilmer Thomas Frickel hat in »Der Störenfried - Ermittlungen zu Oskar Brüsewitz« den widersprüchlichen Charakter auf sensible Weise beschrieben (Film des Monats Dezember 1992 des Gemeinschafts-werkes der Evangelischen Publizistik e. V.: Bundesfilmpreis 1993). Der Film kann ausgeliehen werden über die kirchlichen Bildstellen oder bei Frank Thöne, Tel. 05 61-71 08 70, Fax 05 61-1 88 34.

 

 

10 Aus einer Zeugenvernehmung nach der Selbstverbrennung: »Weiterhin ist mir bekannt, dass Pfarrer Brüsewitz im Zusammenhang mit dem von ihm an der Kirche angebrachten Neonkreuz im vorigen Frühjahr (...) zum Ausdruck brachte, dass er sich etwas neues einfallen lassen müsste, um die Leute bzw. die Christen aufzumuntern. Sie hätten sich schon zu sehr an das leuchtende Kreuz gewöhnt«. - BStU, OPK »Oskar Brüsewitz«, BV Halle, AOPK 2950/76, Bd. 2, S. BStU 170/171.

 

 

 

 


 

 

11 Heinrich Giesen, Kirche - nicht gefragt, Marburg a. d. L. 1966.

 

Selbstverbrennung und Beisetzung

Es war schon einige Zeit über den Feierabend, als ich am 19. August 1976 in meinem Institut den Anruf von Dietmar Meckel erhielt. Nach umständlicher Einleitung, die mich wegen der immer vermuteten Mithörer nicht verwunderte, kam er zur Sache und berichtete über den Selbstverbrennungsversuch von Oskar Brüsewitz. »Sollte er überleben, werden sie ihm und seiner Familie das Leben zur Hölle machen!« Oskar Brüsewitz war im Talar am 18. August 1976 mit seinem Privat-PKW vor die Michaeliskirche gefahren, hatte zwei Plakate aufgestellt, eine große Milchkanne Benzin über sich geschüttet und angezündet. Die erste Aktion der Polizei war das Abräumen der Plakate, so dass zwar westliche Besucher hei ihrer Heimfahrt den Fall meldeten, durch Augenzeugen der Plakattext jedoch nur ungenau wiedergegeben werden konnte - zur Erleichterung der Sicherungsorgane. Eine Losung lautete: »Die Kirche in der D.D.R. klagt den Kommunismus an! wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen«.

Ich war von dieser Nachricht erschüttert, hin- und hergerissen. Einerseits ist es einem Christen verwehrt, sein eigenes Leben selbst zu beenden. Andererseits war dies ein öffentlicher Fakt, der nicht zu übersehen war, wussten wir doch, dass man ohne Selbstbeschädigung diesem System nicht ernsthaft entgegentreten konnte. Jetzt kam es darauf an, die bevorstehende Desinformation unterlaufen zu helfen. Bei unserem Zeitzer Februartreffen hatte ich ein Portrait von Brüsewitz aufgenommen, das ich nun in meinem Küchenlabor Abend für Abend vervielfältigte und mit den später erlangten Informationen und kirchlichen Dokumenten weitestmöglich streute.12

Die spektakuläre öffentliche Meinungsäußerung eines Pfarrers wurde Chefsache. Im ZK der SED erarbeitete der für Kirchenfragen zuständige Sekretär Willi Barth wohl noch am 18. August einen Maßnahmeplan. Die Kirche sollte mithelfen, »Spekulationen und Gerüchte« zu vermeiden. Ziel war, die Kirchenvertreter aller Ebenen zu bewegen, sich von Brüsewitz zu distanzieren und ihn für geistig anormal zu erklären. Und natürlich waren zuverlässige Informationen über Situation und Meinungen in der Bevölkerung zu sichern und »operativ die erforderliche Argumentation« zu entwickeln:"13: »Brüsewitz traf den Nerv14

Am 22. August 1976 starb Oskar Brüsewitz. Niemand war zu ihm gelassen worden, nicht einmal seine Frau. Seinen behandelnden Ärzten hatte er noch anvertraut, dass er sich im Kampf gegen den Kommunismus opfere und dass die Kirche ihn versetzen wolle.15 Die Beerdigung war für den 26. August angesetzt. Ich nahm Urlaub und fuhr nach Zeitz. Dietmar Meckel hatte am Tag zuvor zufällig den ARD-Korrespondenten Lothar Loewe getroffen und ihn mit Informationen versorgt. Der amtierende Superintendent, Erich Schweidler, hatte die Hauptverantwortung für den Beerdigungsablauf. Uns war klar, dass die »Absicherung« der Feierlichkeit durch die »Organe« gigantisch war. Leicht erkennbar waren zwei Fotografen, die die Gesichter der einzelnen Teilnehmer fotografierten. Auch die kleinen »unauffälligen« Gruppen mit Aktentaschen konnte man bequem zuordnen. Einzelheiten sind heute in den Stasi-Unterlagen nachzulesen: Unter der Federführung des Leiters der Stasi-Bezirksverwaltung Halle, Oberst Dr. Schmidt, wurde am 25. August ein martialischer Maßnahmeplan »zur vorbeugenden Verhinderung von negativen und feindlichen Aktivitäten« befohlen.16 Dem Einsatzstab gehörten die Berliner Majore Wiegand, Chef der für die Kontrolle der Kirchen verantwortlichen Hauptabteilung XX/4 im MfS, sowie sein Untergebener Rossberg an. Eine Funkstation, Stützpunkte für Beobachtung, Abhören, Dokumentation, Verhaftung und zur »Absicherung« der Anfahrtswege waren mit operativer Technik und Kräften verschiedener Spezial-Dienste des MfS zu versehen. Neben den beiden von uns festgestellten Fotografen wartete ein dritter auf den Einsatzbefehl. Sogar ein Schriftenfahnder stand bereit.

Die Traueransprache hielt Propst Dr. Bäumer als Vertreter des Bischofs Dr. Krusche.17 Sein Ausruf »Aber wir distanzieren uns von dem Menschen und Bruder nicht« tat wohl, wenn wir auch den Druck auf die Kirchenleitung, sich von Brüsewitz zu distanzieren, nur ahnen konnten.

Das Fernsehteam von Loewe hätte mein Brüsewitzportrait gerne übernommen, aber aus Angst vor strafrechtlichen Folgen18 blockte ich ab. Später ärgerte ich mich darüber, aber es sollte sich zeigen, dass diese Zurückhaltung weise war: Bei einer illegalen Wohnungsdurchsuchung fand die Stasi 1978 einen Zeitungsausschnitt aus der »Kölnischen Rundschau« mit diesem Portrait, und sie versuchte, eine direkte Verbindung zwischen mir und dieser Zeitung zu finden. Ich hatte sehr wohl in der Hoffnung, dass es die Medien erreicht, Fotos und anderes Material breit gestreut.

 

   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

12 Viele Sendungen erreichten ihr Ziel nicht. Da zahlreiche Adressaten kirchliche Mitarbeiter waren, konnte ich einiges über kircheninterne Kanäle auf den Weg bringen. Das wurde dann gestoppt. Meine Anfrage im Dezember 1977 an Propst Dr. Winter vom Berliner Konsistorium wurde mit einer Einladung beantwortet (die von der Stasi mitgelesen und kopiert wurde). Das Gespräch mit Winters Vertreter ergab ein Nein. Somit fielen weitere Sendungen mit wirklich innerkirchlichen Inhalten, versendet durch einen ungeschützten Laien, einschließlich der Zieladressen, in Stasi-Hände.
 

13 Unterlagen des Staatssekretariats für Kirchenfragen der DDR: Akte »Der Fall Brüsewitz v. 18. Aug. 1976«, Bundesarchiv Abteilung Potsdam (BArchP), DO 5493, Az. 12-15-08 (01-03), S. 2-3.
 

14 So Politbüromitglied Horst Sindermann, zit. bei Manfred Stolpe, Schwieriger Aufbruch, Berlin 1992, S. 119.
 

15 OPK »Oskar Brüsewitz« (Anm. 10), Bd. 3, S. BStU 71.
 

 

 

 

 

16 Ebd, Bd. 3, S. BStU 237-241.
 

 

 

 

 

 

17 Krusche weilte auf einer ökumenischen Begegnung in Tansania. Später mußte er sich dafür verteidigen, diese Reise nicht abgebrochen zu haben. Für die SED war die Übernahme durch den Bischofsvertreter eine fragwürdige Solidarisierung durch die Kirchenleitung.

 

18 Übermittlung von nicht der Geheimhaltung unterliegenden Informationen, die der DDR schaden.

 

Gleichgeschaltete Presse

Das »Neue Deutschland« (ND) meldete in seiner Wochenendausgabe am 21./22. August 1976 den Selbstmordversuch eines krankhaft veranlagten, unter Wahnvorstellungen leidenden evangelischen Pfarrers, dessen Tat die Westmedien zu einer verleumderischen Hetze nutzten. Dabei berief man sich verlogenerweise auf kirchliche Leitungsgremien. Am Montag darauf veröffentlichte das ND einen sinnentstellenden Zusammenschnitt des »Wortes an die Gemeinden«, das die Kirchenleitung in Magdeburg am 21. August mit 12 Stimmen gegen zwei Enthaltungen verabschiedet hatte.19

Beachtenswerterweise brachte die »Neue Zeit«. Zentralorgan der DDR-CDU, am 23. August den vollständigen Text des »Wortes an die Gemeinden«. Unter »Weitere Stellungnahmen« bestätigen jedoch drei »kirchliche Persönlichkeiten« die SED-Sicht, darunter Theologiedozent Heinrich Fink20 mit Ehefrau Ilsegret. Der Staatssekretär für Kirchenfragen Seigewasser hatte dieses »Material« bereits am 21. August an Werner Lamberz, im SED-Politbüro verantwortlich für Agitation und Propaganda, weitergegeben, der es seinerseits an Willi Barth von der AG Kirchenfragen im ZK der SED weiterreichte.

Bei den drei Autoren fragte ich schriftlich nach, wie sie zu ihren Bewertungen gekommen seien. Nur von einem erhielt ich Antwort. Auch Fink hatte geantwortet. Die Stasi fing allerdings in ihrer übergroßen Weisheit diesen Brief ab, der mich - theologisch argumentierend - auf den richtigen, DDR-freundlichen Weg zurückbringen wollte. In den Unterlagen21 fand ich den Brief: nicht das Original, sondern einen Durchschlag.

Der 31. August brachte jenen unsäglichen, von Erich Honecker persönlich verantworteten Artikeln22 im ND, der viele Menschen in der DDR, Christen und Nichtchristen, Kirchenleitungen und einfache Gemeindeglieder, empörte. Unterschrieben mit »A. Z.« wurde mit scharfen Angriffen auf die »bundesdeutschen Kirchenfürsten« von Brüsewitz ein schlimmes Bild gezeichnet: Vom Vorwurf der BND-Hörigkeit bis zur Verrückterklärung zog man alle Register. Gleichzeitig wurde die schöne Seite der DDR entworfen mit ihrer Gleichberechtigung und den guten Bildungsmöglichkeiten.23  Der Beitrag wurde in allen SED-Bezirksblättern und im CDU-Zentralorgan nachgedruckt.

Die zur Diffamierung von Brüsewitz herangezogenen Einzelheiten wurden durch die Stasi-Ermittler am 18. August und danach in hektischen und suggestiven Befragungen zusammengetragen. Als die Protestwelle gegen den ND-Artikel anschwoll, untersuchte die Stasi die Stichhaltigkeit dieser »Fakten« und musste in vielen Fällen feststellen: »Darüber liegen keine Informationen vor.«24 Sie hatten wohl in der Eile zu eifrig ermittelt.

Am 2. September schrieb ich an den Berliner Bischof Schönherr, der dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR vorsaß, beschwerte mich über die restriktive kirchliche Informationspolitik und verlangte eine Stellungnahme zu den Pressebeiträgen. Stolpe als Leiter des Sekretariats des Bundes antwortete am 15. Oktober, beschrieb Probleme »unter unseren Bedingungen« als schwierig und forderte mich auf, mit nachzudenken und »auch selbst die Initiative« zu ergreifen.25

Die Magdeburger Kirchenleitung schrieb am 2. September einen offenen Brief an das »Neue Deutschland« und die »Neue Zeit«, der auch an alle Pfarrämter ging. Am 10. September beschloss die Konferenz der Kirchenleitungen einstimmig einen »Brief an die Gemeinden«, der am 13. dem Staatssekretär zu überbringen sei und ab 19. in den Gemeinden verlesen werden sollte. Am 15. September reagierte Honecker und bezeichnete diesen vorsichtig-deutlichen Brief als »einen der größten konterrevolutionären Akte gegen die DDR«  siehe

Auch ich verfasste einen Protestbrief. Allerdings wartete ich damit, bis der Abschluss meines Dissertationsverfahrens in Sicht war. Die Promotion auf dem Gebiet der mathematischen Kybernetik war schon einmal verhindert worden, als mich 1970 an der Humboldt-Universität Berlin eine Dozentin für Marxismus-Leninismus denunziert und ich mich daraufhin in der Industrie zu »bewähren« gehabt hatte .26 Ich sprach den Text mit meinem Seelsorger Rudi Pahnke durch, der hier und da Formulierungsänderungen empfahl. Aber ich informierte auch den Fachbereichsdirektor meiner Arbeitsstelle, teils aus taktischen, teils aus Fairnessgründen.

Was ich nicht wusste: Dieser Chef war der IM »Adam Ries«. Mein Brief ging am 24. September an das ZK der SED ab, eine Kopie davon an das »Neue Deutschland« und eine an die Kreiskirchenleitung Zeitz. Ausgelöst durch das SED-Blatt, das meine Eingabe an die Stasi-Hauptabteilung XX/4 weitergab, wurde gegen mich eine »Operative Personenkontrolle« (OPK) ausgelöst.

Verantwortlich war die Stasi-Abteilung XVIII, die sich um die »Sicherung« der Volkswirtschaft kümmerte. Die Stasi-Genossen gewährten mir den Ehrennamen »Apostel« sowie in der Folgezeit die Aufmerksamkeit, wie sie auch Tausenden anderer DDR-Bürger zuteil wurde. Die SED ließ Äußerungen der Bevölkerung zusammentragen. Nach den Berichten der Zuträger stieß die Selbstverbrennung fast einhellig auf Unverständnis und Ablehnung. Das mag für die Durchschnittsbevölkerung, und was die schreckliche Tat selbst betrifft, auch zutreffen, aber natürlich wusste jeder, wie er auf solche Fragen zu antworten hatte.

Dennoch war immer wieder über »Vorkommnisse« zu berichten, wo Einzelpersonen, kirchliche Gremien oder Kirchengemeinden, wenn sie schon nicht zustimmten, so doch dadurch auf sich aufmerksam machten, dass sie gegen die Beschimpfungen im »Neuen Deutschland« auftraten. Immer wieder waren Blumen am »Ereignisort« abzuräumen. Unvorsichtig fragte man herum, wer unter den Pfarrern zu einer solchen Tat fähig wäre.

Oskar Brüsewitz blieb bis zum Ende der DDR »politisch-operativer Schwerpunkt« der Stasi 27

 

   

 

19 Enthalten in Harald Schultze (Hrsg.), Das Signal von Zeitz. Reaktionen der Kirche, des Staates und der Medien auf die Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz 1976. Eine Dokumentation, Leipzig 1993, Dok. 16. So ließ man beispielsweise den ersten Satz folgender Passage weg: »Wir bedauern, dass Äußerungen verantwortlicher Mitarbeiter des Kirchenkreises Zeitz und der Kirchenleitung sinnentstellt veröffentlich worden sind. Jeden Versuch, das Geschehene in Zeitz zur Propaganda gegen die Deutsche Demokratische Republik zu benutzen, weisen wir zurück.«

20 Fink wurde seit 1969 als IMB (IM mit Feindverbindung) »Heiner« beim MfS geführt. Vgl. Dietmar Linke, Theologiestudenten der Humboldt-Universität, Neukirchen-Vluyn 1994.
 

 

 

 

21 BStU, OPK/OV »Apostel«, BV Berlin AOP 25904/80.

 

22 Information von Politbüromitglied Günter Schabowski an den Dokumentarfilmer Thomas Frickel.
 

 

 

23 Unvorsichtig verweist »A. Z.« auf die Ausbildung einer der Brüsewitz-Töchter. Esther Brüsewitz als kreisbeste Schülerin mit Notendurchschnitt 1,0 wurde nicht zur Oberschule zugelassen und sollte Gleisbaufacharbeiterin werden.

 

24 OPK »Oskar Brüsewitz« (Anm. 10), Bd. 3, S. BStU 173 ff; diese Untersuchungen wurden von der vorgesetzten Dienststelle Halle durchgeführt.

 

 

25 Wie ich heute weiß, ging dieser Brief an viele Beschwerdeführer. Diese Aufforderung zur Eigeninitiative wird oft nicht mitzitiert, etwa bei Helmut Müller-Enbergs ei al. (Hrsg.), Das Fanal. Das Opfer des Pfarrers Brüsewitz und die Evangelische Kirche, Frankfurt am Main 1993, S. 183 f.

 

 

 

 

 

 

26 Das geschah, obwohl die Dissertationsschrift damals im wesentlichen fertig war; Begründungen waren u. a.: »Zech ist aktiv und führend in der ESG [Evangelische Studentengemeinde) tätige, »ist aus der FDJ ausgetreten«, »intelligent, aber politisch schwankend«. Die betreffende Dozentin lehrte nicht in meiner Seminargruppe. Meine eigenen ML-Dozenten waren sehr viel differenzierter, und die vielen Diskussionen mit ihnen wurden offenbar keinesfalls denunziatorisch weitergegeben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

27 Aus BStU, IM-Akte »Romeo«, BV Halle VIII/761/67, Teil 1, S. BStU 154, geht hervor, dass zumindest bis 1987 die »Brüsewitz-Woche« die besondere Aufmerksamkeit der Sicherheitsorgane genoss.

 

Im Visier

Am 6. Oktober 1976 unterschrieb man meine Promotionsurkunde. Gleichentags erstellte die HA XX/4 sechs Exemplare einer als »Streng geheim« eingestuften Information über »Negative Aktivitäten im Zusammenhang mit der Angelegenheit BRÜSEWITZ« und übergab eins an die zuständige Abteilung XVIII. Gegenstand ist meine Eingabe vom 24. September. Berichtet wurde auch über mein Schreiben an »den [sic!] Verfasser der ersten Pressenotiz in der »Neuen Zeit««, also an Heinrich Fink, und darüber, dass ich an der Beisetzung teilgenommen hätte. Weiter ist meine Aktivität zur postalischen Materialverteilung aufgelistet. Auch aus einem Brief meiner Frau wird zitiert. Schließlich schlägt die HA XX folgende Maßnahmen vor:

  • »Übergabe des Materials zur weiteren Aufklärung der Personen ZECH und PETERS28 an die BV Groß-Berlin;
  • Operative Kontrolle über ZECH und PETERS durch BV Groß-Berlin, um evtl. Demonstrationshandlungen besonders im Zusammenhang mit den Wahlen zu verhindern;
  • Übergabe einer Information und Materials [sic!] an die HA IX29 zur strafrechtlichen Einschätzung.«

 

   


 

 

 

 

 

 

 

28 Hinrich Peters erhielt und verteilte ebenfalls Material; man vermutete Zusammenarbeit.
 

29 Die HA IX war zuständig für Ermittlungen.

 

Operative Personenkontrolle

Am 14. Oktober 1976 wurde mein Arbeitsplatz erstmals »konspirativ« durchsucht. Gleichzeitig erfolgte durch den »Experten-« bzw. »Ermittler-IM« (IME) »Ernst Huhn«, spezialisiert für solche Aufgaben, die »Wohngebietsermittlung« durch Befragung von Mitbewohnern. Er hatte sich vorher beim Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei über »positive Bewohner des Hauses« erkundigt. Eine Wohnungsskizze und ein Schlüsselprofil lieferte er mit.

Einen Tag später leitete man das Kontrollverfahren ein. Begründung: »Träger und Verfechter der polit.[isch -ideolog.[ischen] Diversion, Aktiver Anhänger konterrevolutionärer Aktionen der ev. Kirche«. Ziele waren: »Operative Aufklärung und Kontrolle der oben gen.[annten] Handlungen des Z., insbes. Aufklärung und Beweisführung möglicher staatsfeindlicher Aktivitäten«. Einzusetzen waren dabei vorläufig die IM »Adam Ries«, »Carola« und der künftige IMS »Günter Lenz« sowie später die IM »Rainer Winter« und »Chemiker«. Die Adressaten meiner Informationssendungen galten als »bisher unüberprüfte Personen«. Man vermutete richtig, dass ich die versandten Fotos als Fotoamateur selbst hergestellt hatte, und ging davon aus, dass aus den »vorliegenden Dokumenten, insbesondere den eigenen Bemerkungen (...) zur Selbstverbrennung von Brüsewitz, keine strafrechtliche Relevanz abgeleitet werden kann«. Ich hatte meinen Informationssendungen gewöhnlich ein Blatt mit »eigenen Bemerkungen« zur Selbstverbrennung beigefügt, das ich nach und nach weiterentwickelte und das in der Formulierung die unerwünschten Mitleser durchaus berücksichtigte. Man war sich jedoch nicht im klaren, ob ich »im Auftrag negativer kirchlicher Kreise« mit bislang unbekannter Zielstellung oder selbständig handelte mit dem Ziel, Gleichgesinnte »zur Aktivierung der evangelischen Kirche gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse« anzusprechen. Es gehörte zum falschen Bewusstsein der SED, dass sie sich DDR-Bürger, die aus eigenem Antrieb und ohne Auftrag »negativer Kreise« handeln, kaum vorstellen konnte. Und so schätzte einige Tage später der Genosse Schleupner von der HA XX/4 in einer Absprache mit der HA XVIII ein, dass »die von Zech in der Sache Brüsewitz durchgeführten Handlungen mit hoher Wahrscheinlichkeit im Auftrage des Pfarrers Rudi Pahnke bzw. mit dessen Kenntnis erfolgten«. Zielvorstellungen und Hintermänner seien noch nicht bekannt. Und eine weitere Angstkomponente wurde sichtbar: Es sei »zu prüfen, inwieweit er selbst Verbindungen (...) zu dem bekannten negativen Künstler- und Kulturschaffendenkreis hat«. Auch meine Frau geriet ins Visier. Sie hatte an der Berliner Humboldt-Universität klinische Psychologie studiert. Schleupner berichtete über »eine negative Konzentration von Psychologiestudenten, die zersetzt wurde« und von denen einzelne im Fall Brüsewitz »wieder negativ in Erscheinung getreten« seien. Das hatte zur Folge, dass fortan auch meine Frau Liebgard unter der OPK »Apostel« »bearbeitet« wurde.

 

   
 

Solidarität der Kirchengemeinde

In der Tat verbreitete mein Seelsorger Rudi Pahnke die Informationen, die ich über Zeitz aus der provinzial-sächsischen Kirche erhielt, in den Jugend- und Pfarrkonventen. Gegen ihn eröffnete die Stasi den Operativen Vorgang »Vermittler«, weil er sich mit Künstler- und anderen nicht-kirchlichen Kreisen traf und auch dort über Brüsewitz informierte. Der Kirchenleitung stellte er hartnäckig Fragen.

In mehreren Gottesdiensten meiner Kirchengemeinde »Elias« im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg wurde das Thema Brüsewitz öffentlich angesprochen. Einmal wurde ein Brief an Frau Brüsewitz verlesen, den die Gemeinde unterschrieb. Auch wurde eine Geldsammlung für die Witwe von der gesamten Gemeinde mitgetragen, nicht nur von »aufmüpfigen« Jugendlichen, sondern gerade von den eher Älteren. Dies war ein Beweis dafür, dass christliche Gemeinde, auch die traditionelle, zum mutigen Zeugnis und zur Verantwortungsübernahme bereit ist - wenn man es ihr nur zumutet.

Meinen Zeitzer Pfarrerfreund Dietmar Meckel hatten wir noch im September in die Gemeinde eingeladen, um über Brüsewitz, sein Leben und seinen Tod, zu berichten. Der Saal war übervoll, ein kirchliches Gremium, das im Hause tagte, kam noch hinzu. Der Bericht Meckels beeindruckte. Die Kirchenleitung Magdeburg aber bat ihn, von derartigen »Reisen in Sachen Brüsewitz« künftig Abstand zu nehmen. Teilnehmer des Informationsabends war auch Reinhard Höppner gewesen, damals Mitglied der Landessynode und heute Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt. Nach der Wende daraufhin angesprochen meinte er, ihm sei es nur um unakzeptable Formulierungen von Meckel gegangen, nicht um die Informationsabsicht an sich. Er bemängelte - vielleicht zu Recht - Meckels flapsigen Ausspruch »Dies d. h. die Selbstverbrennung 1 war sozusagen sein letzter Brüse-Witz«, nachdem er die Einfälle - auch die lustigen - von Brüsewitz geschildert hatte.

 

   
 

Unabhängige Marxisten

Eine Gruppe von 35 jungen Künstlern und Intellektuellen, teilweise Ex-SED-Mitglieder, die sich ebenfalls sehr an dem Artikel im »Neuen Deutschland« stießen, schrieben Mitte September einen Brief an Erich Honecker. Je eine Kopie sollte an die Kirchenleitung Magdeburg und an Frau Brüsewitz gehen.30 Pfarrer Pahnke nahm das Schreiben zur Weiterleitung nach Magdeburg über die Berliner Kirchenleitung entgegen. Da Bischof Schönherr die Annahme verweigert hatte. gab Pahnke ihn an Dr. Pietz, Präsident der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union (EKU) und Rektor der kirchlichen Predigerschule Paulinum, der es in Magdeburg überreichen wollte. Doch Pahnke bekam Besuch von zwei Herren: Staatsanwalt Nienkirchen und ein MfS-Offizier hatten die Aufgabe, alle Exemplare des Briefes einzutreiben. Da dieser nicht mehr hei Pahnke war, wurde Pietz wenige Minuten später aus einer Sitzung geholt und zur Herausgabe des Briefes gezwungen. Dr. Pietz hatte aber klugerweise vorher Kopien hergestellt. So erreichte dieser Brief dennoch sein Ziel. Gegen die Mitglieder dieser Gruppe ging die Stasi strafrechtlich vor, sie wurden inhaftiert.

Die Berlin-Brandenburgische Kirchenleitung zeigte sich besorgt über die entstandene Unruhe unter der (kirchlichen) Jugend, weil sich jetzt Sozialisten für die Kirche inhaftieren ließen, und diskutierte tatsächlich, ob diese Verhaftungen die Kirche etwas angingen, ob kirchliche Intervention die Sache nicht verschlimmere. Vielleicht wollten die nur Märtyrer spielen?31 Der spätere Bischof Gottfried Forck gehörte zu denen, die forderten, dass man sofort etwas für die Inhaftierten tun müsse. Auch Bischof Werner Krusche aus Magdeburg setzte sich bei Honecker für die Inhaftierten ein. Dieser bestritt jedoch eine Inhaftierung im Zusammenhang mit dem Protestbrief. Ruppert Schröter, einer aus der Gruppe und heute Pressesprecher im Brandenburger Sozialministerium, wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, wobei jedoch dieser Brief offiziell nicht mit strafbegründend war. Ein anderer verübte Suizid. Mancher emigrierte.

Ebenfalls im September war Wolf Biermann in einer Prenzlauer Kirche aufgetreten und hatte dort Brüsewitz' Selbstverbrennung als eine Art Republikflucht charakterisiert. In seinem »Spiegel«-Artikel »Es gibt ein Leben vor dem Tod« berichtete er von diesem Auftritt und sprach von einer »Roten Kirche«.32

Die Befürchtung, eine öffentlich und offen sprechende Kirche könnte sich mit kritischen Linken zu einer oppositionellen Bewegung vereinen, musste im Politbüro Panik auslösen.33 Biermann wurde zwei Monate später ausgebürgert. Die Praxis, kritische Künstler in kirchlichen Räumen auftreten zu lassen, weitete sich jedoch aus.

 

   

 

 

30 Mitunterzeichner waren unter anderem Bettina Wegener, Klaus Schlesinger, Ruppert Schröter; dok. in H. Schultze (Anm. 19), S. 268 (Dok. 56).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

31 BStU, OV «Vermittler.., BV Berlin, AOP 6155/83, Bd. 1,
S. 74175.

 

 

 

32 Vgl. Der Spiegel Nr. 39/1976, S. 207-209.

33 Vgl. auch die Rede Mielkes am 27.9. 1976, in: Gerhard Besier et. al., Pfarrer, Christen und Katholiken, Neukirchen-Vluyn 1991, Dok. 54, S. 288 ff. - Oppositionelle Äußerungen wurden in den siebziger und achtziger Jahren im wesentlichen mit linken bzw. sozialismusnahen Begründungen vorgetragen. Auch das führte dazu, dass angesichts der real-existierenden Widersprüche den Machthabern zunehmend die Argumente ausgingen, da sie mit ihren eigenen ideologischen Fundamenten konfrontiert wurden.

 

Stasi-Aktivitäten werden intensiviert

Ende Dezember 1976 wurde durch Stasi-Oberstleutnant Wiesner ein »Operativplan« zur Bearbeitung des »Apostel« bestätigt. Erstes Ziel war eine Bewertung meiner Motive: staatsfeindlich organisiert oder emotional-spontan? Es war unser gesamtes Umfeld zu analysieren, waren IM anzuwerben und heranzuschleusen, ein komplexes Persönlichkeitsbild zu »erarbeiten«. Dazu kam ausführlicher Informationsbedarf zu »Verbindungen und Kontakte[n] im Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich«. Sie wollten solche IM-Kandidaten bis Januar 1977 auswählen und bis März »aufklären«, die »gegebenenfalls zersetzend wirksam werden« konnten, Eine »konspirative Wohnungsdurchsuchung« sollte »sachdienliche Hinweise und Beweise« erbringen.

Dieser Operativplan schaffte für das Jahr 1977 Arbeit für mehrere Stasi-Mitarbeiter. Man ermittelte in unseren Geburtsorten34 und beschäftigte sich mit den Empfängern unserer  Informationssendungen. Durch Briefkontrolle erfuhren sie sogar, hei wem wir im November 1976 die Übertragung des legendären Kölner Biermann-Auftritts im Westfernsehen gesehen hatten, der zum Anlass seiner Ausbürgerung wurde. Am 20. April fing die Stasi-Postkontrolle Liebgards Brief an einen Studienfreund ab, dem sie eine Abschrift aus einem Rundfunkinterview von Reiner Kunze beigelegt hatte. Der Dichter Reiner Kunze hatte gerade unter großem Druck die DDR verlassen müssen und regte in dieser Sendung an, dass die eigenständig Denkenden einander Signale geben und dass sie den Geist hochhalten sollten.35 In den späten achtziger Jahren wird die Stasi feststellen, dass wir diese Empfehlungen wohl eingehalten hatten.36

Ihren ersten Werbeerfolg verbuchte die Staatssicherheit am 14. Februar 1977. Planmäßig gewann sie einen Mathematiker, der lange FDJ-Sekretär im Institut für Nachrichtentechnik, meiner Arbeitsstelle, gewesen war. Seine Aktivitäten hielten sich allerdings in Grenzen. Indes ging es den Vorgesetzten nicht schnell genug voran. Der Stellvertreter des Leiters der Berliner Abteilung XVIII, Major Lahomczyk, beschwerte sich im Juni in einer Notiz, dass der Bearbeiter, Oberleutnant Rainer Sodeik, zur Abt. XX »kommandiert« wurde und nun die Arbeit liegen geblieben sei, die geplante Wohnungsdurchsuchung und das Finden eines Stützpunktes im Wohngebiet noch ausstehe, die Tatschriften noch nicht analysiert seien und überhaupt konzeptionslos geschlampert worden sei. Für uns gnädige Fügung, für die Genossen jedoch disqualifizierend, wird festgestellt, dass der illegal abgefangene »Hetzbrief« meiner Frau mit dem Kunze-Interview nur noch eingeschränkt für »legalisierende (...) Kombinationen« verwendbar sei. Der Grund: »unzulässige Veränderungen am Beweismittel. (Aktenlochung zum Zweck der Abheftung)«. Weiter stellte er fest, meine Frau sei bisher unterschätzt worden, zumal sie Diplom-Psychologin sei. Schließlich wird die Eröffnung eines OV37 wegen staatsfeindlicher Hetze gefordert.

Die Analyse unserer Mitbewohner erbrachte im Juli einen ersten Ansatzpunkt. Der unmittelbare Nachbar wurde als Kandidat für eine IM-Tätigkeit ausgespäht. Vermittelt durch einen Stasi-Leutnant aus dessen Arbeitsstelle führte Sodeik ein erstes »Kontaktgespräch«. Unser Nachbar »erfuhr«, dass man einem »nichtgemeldeten Funker« auf die Spur kommen wolle. Diese Nachbarn hatten zu anderen Hausbewohnern als uns kaum Kontakt. Viele Begegnungen liefen über unsere Kinder. Freimütig berichtete der Kandidat darüber, dass wir einen großen Bekanntenkreis unterhielten, dass manche sogar in unserer Abwesenheit in der Wohnung seien. Die westlichen Besucher, die er feststellte, brachte er in Verbindung mit unseren kirchlichen Aktivitäten, in denen er einen Widerspruch zur Ausbildung und Tätigkeit diagnostizierte.38 Eifrig nahm er die Aufgabe an, »Kontrollmaßnahmen« gegenüber den Z. durchzuführen.

Am 25. November 1977 konnte die Stasi ihren neu verpflichteten IM »Chemiker« einsetzen.39 Zuvor hatte er selbständig Ideen entwickelt, wie er uns fotografieren oder durch die Wand abhören könnte. Eine Woche später teilte man dem »Chemiker« mit, dass am 7. Dezember der Einbau »operativer Technik«, also Mikrophone, vorgesehen sei. Er hatte bereits herausgefunden, wann meine Frau nicht anwesend ist. Unsere Tochter schlug den Genossen jedoch ein Schnippchen. An jenem Tag rief »Chemiker« bei Sodeik an und teilte mit, dass meine Frau wegen der Erkrankung unserer Tochter zu Hause bleibe. Sodeik: »Damit ergibt sich, daß die B-Maßnahme40 z. Z. nicht realisiert werden kann.« Die Maßnahme wurde verschoben. Im Oktober war bereits die Postkontrolle, die Stasi-Abteilung M, eingeschaltet worden.

 

   

34 Ein Ergebnis: Meine Mutter habe «ihre Kinder zwar kirchlich beeinflußt, aber zu ordentlichen Bürgern erzogen«. - OPK/OV -Apostel« (Anm. 21), S. BStU 109 ff. Der Bericht charakterisiert auch den Pfarrer meines Heimatortes, meinen Konfirmator. Ich wusste, dass er den „Brief an die Gemeinden« nicht verlesen hatte und auch, dass Gottesdienstbesucher von einem stadtbekannten Stasi-Offizier danach gefragt wurden. Im Bericht liest sich das so: »Der evang. Pfarrer S(...) spielt eine positive Rolle. Es wird eingeschätzt, daß er die Kirchenpolitik im Sinne unseres Staates betreibt. (...) Es wurde bisher nicht bekannt, dass in seiner Gemeinde durch ihn oder eines seiner Mitglieder gegen den Staat propagiert wurde. So wurde z.B. der Hirtenbrief' der evang. Kirchengemeinde des Krs. Zeitz zur Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz in Schlotheim nicht verlesen. Es gab dazu auch keine bekannt gewordenen Meinungen oder Diskussionen die der Presseveröffentlichung entgegen standen.«

35 Es heißt dort: «Keine Emotionen. Lernen Sie! Machen Sie sich unentbehrlich. (...) Heißt das, dass wir jetzt zu allem schweigen sollen? Das heißt es natürlich nicht. Nur, das muss jeder von Fall zu Fall selbst entscheiden, und, damit er das kann, (...) sollten sich alle Menschen, die sich (...) das eigenständige Denken nicht abgewöhnen lassen, Signale geben, damit sie voneinander wissen (...), sollten einander helfen, den Geist hochzuhalten, (...), helfen, an Bücher heranzukommen (...), die nicht angeboten werden.« (Ebd., Bd. 3, S. BStU 99-104)

36 Vgl. Karl-Adolf Zech: »Ein Abrüstungssymbol in der DDR und seine Folgen«, Horch und Guck 3/1995, S. 26.

 

 

 

 

 

37 Operativer Vorgang; klar definierte Form der «Bearbeitung« von feindlichen Kräften durch die Stasi mit bestimmten Zielstellungen.

 

 


 

38 Für viele der durch die DDR-Volksbildung gegangenen Menschen war religiöses Bewusstsein und damit kirchliche Tätigkeit »unwissenschaftlich«; eine höhere, wissenschaftliche Bildung von Christen versetzte daher immer wieder in Erstaunen. Noch während der Wende wunderten sich viele über die Qualifikation der Führungsfiguren, die ja großenteils aus dem kirchlichen Bereich kamen.

39 Werbungsgründe: »Zielgerichtete Bearbeitung der OPK Apostel' durch op.[erative] Kontrolle der Kontakte und Verbindungen sowie entsprechende Dokumentierung; aktive Unterstützung bei der Realisierung op.[erativ]-techn.[ischer] Maßnahmen und umfassende Aufklärung der objekt.[iven] Bedingungen durch Ausbau des Kontaktes mittels geeigneter Legenden.«

40 B-Maßnahme: Einbau und Einsatz von Mikrofonen (akustische Raumüberwachung). 

 

Exkurs: Hatz in Zeitz

Nach wie vor war Brüsewitz »Operatives Material« der Stasi. Die kirchlichen Mitarbeiter von Zeitz und Umgebung standen nach der Selbstverbrennung unter besonders intensiver Kontrolle. Die Pfarrer Ziebarth, Meckel, Schweidler und andere wurden bereits vor 1976 als Operative Personenkontrollen bearbeitet. Familie Brüsewitz war ein bedeutender Schwerpunkt. Mehrere neue IM wurden angeworben.41 Im April 1977 wurde ein Maßnahmeplan gegen Ziebarth, Meckel und die Witwe Christa Brüsewitz erarbeitet. Begründung: negative politisch-ideologische Grundhaltung, Identifizierung mit Brüsewitz' Tat, Westbeziehungen. Hauptmann Enke, Stasi-Vize von Zeitz, legte im gleichen Monat eine Beschlussvorlage zum Anlegen des OV »Untergrund« gegen Ziebarth vor, die nach Zustimmung der Stasi-Abteilung XX Halle im Juni durch seinen Chef, Oberstleutnant Held, bestätigt wurde. In einer Konzeption werden im Mai die Ziele dargelegt: »weitere Durchsetzung des Differenzierungsprozesses« bei den Pfarrern. Die Familie Brüsewitz solle bewegt werden, aus Rippicha wegzuziehen. Und man hatte erfahren, dass eine Künstlerin aus Greiz, EllyViola Nahmmacher, ein Denkmal für Brüsewitz schnitzen wollte.42 Diese »Vorstellungen« sollten »zurückgedrängt« werden. Über die Abteilung XX wollte man Einfluss nehmen auf die Wiederbesetzung der Pfarrstelle Rippicha. Ein progressiver Pfarrer sollte es sein, der nun endlich die »Sichtagitation« von Brüsewitz beseitigt und verhindert, dass aus dem Grab eine Gedenkstätte wird. Schließlich stand auch der erste Todestag bevor, und »negative Aktivitäten« durch die evangelische Kirche waren vorbeugend zu verhindern. Das IM-Aufgebot war entsprechend komfortabel.

Das Grabmal der Nahmmacher war Christa Brüsewitz zu traurig: Von unten Flammen, von oben Tränen. Im Freundeskreis sickerte durch, dass es Dietmar Meckel durch Westbesucher im Auto nach »drüben« schmuggeln lassen wollte, was als Zumutung empfunden wurde. In der Tat hatte die Stasi auch davon Wind bekommen: Um dieses Denkmal zu neutralisieren, kaufte es die Stasi.

Einige Monate später wurden im OV »Untergrund« neben Ziebarth auch Pfarrer Meckel, Christa Brüsewitz und weitere geführt. IMV »Romeo« unterwies bis zur Wende als Katechetin Kinder der Umgebung von Zeitz im christlichen Glauben. Sie war bereits 1967 angeworben worden und hatte wenig Skrupel gezeigt. Sie berichtete sehr gehässig über die kirchlichen Mitarbeiter und ihre Tätigkeit, auch über Brüsewitz, Meckel und Ziebarth. Von September bis November 1976 hatte sie unter der persönlichen Kontrolle des Zeitzer Stasi-Chefs Held eine außerordentlich hohe Treffdichte. Sie half weiter bei der Überwachung des »operativen Schwerpunkts Brüsewitz« - bis mindestens 1987.43

Der Rat des Bezirkes Halle beschloss, dass der Rat des Kreises Zeitz einen »Mitarbeiter Kirchenfragen« bekommen solle. Dieser sollte eine solche Kirchenpolitik machen, dass die Kirche keine Handhabe gegen den Staat habe: Ruhigstellen der Kirche. Man gewann einen Bürgermeister der Umgehung, der im März 1977, gleich nach seiner Amtsübernahme, wie vorgesehen als IM geworben wurde.44 Schwerpunkt seiner Arbeit sollte die Familie Brüsewitz sein. Zu diesem Zweck hatte er bei der Schaffung von Kontaktpersonen mitzuwirken. Weitere Hauptaufgaben waren die Beschaffung von Informationen zu den OPK-Pfarrern Meckel, Schweidler, Ziebarth und anderen, die Unterstützung bei der Zersetzung und Verunsicherung negativer und die Förderung und Werbung »loyaler« Pfarrer.

Ein Anliegen der neu belebten Kritik der Kirchen an den gesellschaftlichen Verhältnissen - wie schon im Brief an die Gemeinden vom September 1976 -, aber auch der der internationalen Medien, war die Tatsache, dass christliche Kinder oft große Schwierigkeiten hatten, zur Erweiterten Oberschule zugelassen zu werden. Nach Brüsewitz' Tat wurde diese Praxis gelockert, um das Gegenteil zu beweisen. Man versuchte sogar, Pfarrer dazu zu bewegen, ihre Kinder für die EOS anzumelden. Auch das gehörte zu den Aufgaben des IM »Prager«.

Im Sommer 1979 versuchte man, das Pfarrhaus Dietmar Meckels während dessen Abwesenheit zu durchsuchen, wurde aber von dem Vertretungspfarrer überrascht. Die Eindringlinge gaben sich als Kriminalpolizisten aus, die einem Verbrechen auf der Spur seien. Dietmars löwenähnlicher Teddy-Hund Tramp hatte offenbar das Spielbedürfnis dieser »Kriminalisten« überschätzt und wurde so schwer verletzt, dass er eingeschläfert werden musste (Diagnose des Tierarztes: Verletzungen durch Würgen. Auf der späteren Rechnung stand »Magenverstimmung«). Dem IM »Wartburg«, einem Kfz-Mechaniker, vertraute Dietmar seine Trauer über diesen Verlust an. »Wartburg« berichtete aber auch darüber, dass Dietmar einen IM, der sich ihm offenbart hatte, der Magdeburger Kirchenleitung vorgestellt hatte. Der IM wurde verhaftet und verurteilt. Von »Wartburg« erfuhr die Stasi auch, dass eine heimliche Durchsuchung von Dietmar bemerkt wurde.45

 

   

 

 

41 Die Zusammenarbeit mit den IM war sehr unterschiedlich. So beschaffte die Kreisdienststelle Zeitz ihrem Zuträger »R. Pielka«, einem Selbständigen, z.B. eine Heizanlage (»IM meldet sich nur selbständig, wenn er Bausorgen hat«) (BStU, IM-Akte »R. Pielka«, BV Halle, VIII/1116/79). - Die Bezirksverwaltung Berlin bzw. die Kreisdienststelle Berlin Prenzlauer Berg war wegen Zuständigkeitsfragen nicht in der Lage, den Sohn des »Chemiker« wunschgemäß in der Heinrich-Hertz-Schule unterzubringen (BStU, IM-Akte »Chemiker«, BV Berlin XV/5313/77, AIM 8614/91).

 

42 Einer der Informanten-IM: Manfred »Ibrahim« Böhme, in der Wendezeit Vorsitzender der neugegründeten DDR-Sozialdemokraten; vgl. Birgit Lahann, Genosse Judas, Berlin 1992, S. 155 ff.
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

43 BStU, IM-Akte '.Romeo« (Anm. 27) - IMV = IM mit vertraulichen Beziehungen zu vom MfS verfolgten Personen; ab 1979 als IMB bezeichnet.

 

 

 

44 BStU, IM-Akte »Prager«, BV Halle, VIII/450/77.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

45 BStU, IM-Akte »Wartburg«, BV Halle, VIII/699/73. 

 

Zersetzungsversuch scheitert an »Adam Ries«

Laut Stasi-Richtlinie 1/76 gehörte zu den »bewährten Mitteln und Methoden« neben »systematischer Diskreditierung des öffentlichen Rufes« und dergleichen die »systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge«.46 Offensichtlich wollte Rainer Sodeik diesen Weg versuchen, als er Mitte November 1977 für IM »Adam Ries«, meinen Fachdirektor also, eine Aufgabenstellung erarbeitete und forderte, dass ich durch Arbeit zu überlasten sei, damit ich »sichtbar« negativ reagiere.47 Doch »Adam Ries« blockte ab. Er sang seinem Führungsoffizier das Lied vom vorbildlichen, hervorragenden Wissenschaftler Zech und dass diese Maßnahme nur dein gesamten Kollektiv schaden könne.

Zehn Tage später liefert Sodeik eine »Ergänzung zum Operativplan« ab. Er deutet an, dass er in einem unserer ferneren Freunde aus Dresden »nutzbare operative Möglichkeiten« aufgetan habe. Andererseits muss er eingestehen, dass die »operative Zielstellung« nicht erreicht wurde. Unsere Tatmotive waren noch ungeklärt, sie sahen einen Widerspruch zwischen unseren feindlich-negativen Handlungen und unserem »nach außen sichtbaren Verhalten«. Und so soll uns unter der Verantwortung von Hauptmann Rudi Günzel der IM »Werner Hass« durch einen bewusst geschaffenen Umstand zu einer »kontrollfähigen Reaktion« veranlassen.

 

   

46 Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV). GVS 008-100/76, Berlin, Januar 1976.
 

 

47 »Wie lässt sich das Arbeitspensum bei Gewährleistung genauester Kontrolle und Abrechnung so erhöhen, dass Z. voll ausgelastet ist, keine 'Hobbyarbeit` mehr machen kann und er sichtbar reagiert bzw. zu einer Reaktion veranlasst wird (Auflehnung, negatives Auftreten usw.). Welche Festlegungen können, wie begründet, getroffen werden, die dem Z. jegliches Befassen mit Problemen außerhalb seiner Aufgaben untersagen.«
Mit letzterem waren mathematische Untersuchungen zum computergestützten Schaltungsentwurf gemeint, die ich in der Freizeit erbrachte. Sodeik wusste also von meiner privaten Forschungstätigkeit, die zu zahlreichen Veröffentlichungen und Patenten führte. Also Staatsräson wichtiger als Leistung? Offenbar verstand die Stasi-Abteilung XVIII «Sicherung der Volkswirtschaft« ihren Job nicht so, dass die Leistung der Volkswirtschaft abzusichern war. Da das gesamte Gesellschaftsgefüge auf leistungsneutrale Unterwerfung des einzelnen ausgerichtet war, lässt sich denken, wie die Wirtschaft stetig zurückfallen musste.
Fünf Jahre später wird «Adam Ries« massive Zersetzungsmaßnahmen ergreifen, so dass ich meine Arbeitsstelle verlassen musste, vgl.
K.-A. Zech (Anm. 35).

 

 

»Werner Hass« und »Rainer Winter« werden herangeschleust

»Werner Hass« war bereits seit den frühen sechziger Jahren für das MfS im Einsatz, der bis zum Ende der DDR dauerte. Er war uns unbekannt. Am 18. Januar 1978 besuchte er uns und überreichte den Briefumschlag mit dem Brüsewitz-Material, den ich an den Dresdener Freund geschickt hatte. Er habe dies auf der Autobahnraststätte Freienhufen gefunden. Der Umschlag war von Reifenspuren beschmutzt.

Uns kam die Sache sofort spanisch vor. Den Auftrag dieses Besuchers ahnend, redete ich drauf los, ohne Verdachtsmiene. Meine Frau stand hinter ihm und deutete mir ständig, nicht so viel zu reden. Ich sei »in keiner Weise misstrauisch« gewesen, sprach er am Abend auf Band. Wir hörten nie wieder von ihm.

Die Operation »Werner Hass« diente indes der Vorbereitung eines anderen Kontaktes. Zwei Tage später bekamen wir Besuch von eben jenem Dresdener Freund, dem der Brief gegolten hatte, den uns »Hass« überbrachte. Nach längerer Zeit sahen wir uns nun wieder. Er entstammte einer christlichen Künstlerfamilie und gehörte wie wir in der Studienzeit zur Studentengemeinde. In der DDR hatte er sich eingerichtet und war sogar in der Presse als Vorbild präsentiert worden. Man hatte ihn mit einer abenteuerlichen »Legende« geködert48 An dem Tag, als er uns besuchte, ließ er sich als IM »Rainer Winter« verpflichten.

Natürlich sprachen wir sofort den Brieffund an. Ich gab ihm das Material, das ihn ja nicht erreicht hatte. Am Abend sprach er seinen Bericht auf Band. Oberleutnant Sodeik konnte nun die Aufzeichnungen von der Wanze mit dem »Winter«-Bericht vergleichen, die Zuverlässigkeit des neu gewonnenen Mitarbeiters bestätigen und gleich »Winters« Beförderung zum »IM mit Feindberührung« vorschlagen.49

Am 5. April 1978 bestätigte Oberst Hähnel den Operativ-Vorgang »Apostel«. Grund dafür war der Verdacht auf »staatsfeindliche Hetze« nach §106 StGB. Unter »Operativer Sachverhalt« wird als belastend u.a. aufgeführt, dass wir einem Freund ein Gedicht von Dorothee Sölle geliehen hätten. Wie Oberleutnant Sodeik von der Kirchenabteilung erfuhr, waren Sölles Gedichte gegen den »totalitären Staat« unter der kirchlichen DDR-Jugend stark verbreitet (heute argumentiert sie für die PDS). Die »strafrechtliche Einschätzung« sprach von »willens- und meinungsbildendem Einfluss auf DDR-Bürger im Sinne der feindlichen Positionen des Biermann«. Es zeigt sich jedoch, dass die Stasi in den siebziger Jahren eine gewisse Rechtsfons einzuhalten hatte, wollte sie Leute vor Gericht bringen. Die »politisch-operativen Bedingungen« waren angesichts der internationalen Lage andere geworden. Und so wurde versucht, die Verdachtsmomente der »Zielstellung« zu untermauern. Als ein solches Moment wird ernsthaft aufgeführt, dass wir uns von der Stasi beobachtet fühlten und uns »in der Verbindungshaltung konspirieren«.

 

   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

48 Feindliche Kräfte wollten Hetzmaterial in die CSSR schleusen und hätten ihn als Zwischenstützpunkt ausgewählt. Später brachte man geschickt das Gespräch auf eine »negative« Berliner Psychologiestudentengruppe, woraufhin er - wie geplant - auf meine Frau kam und versprach, uns zu besuchen.

 

 

49 Aus dem Treff-Bericht: »Da die Z. ihn sofort mit der aufgefundenen Postsendung (Auftrag IM,W. Hass` Brüsewitzsendung (. . .)) konfrontierte, konnte er die Gesprächsführung nicht mehr entsprechend der Instruierung vornehmen.« Der IM habe sich jedoch klug verhalten und noch wesentliche Informationen erarbeiten können.

 

Hausfriedensbruch

Im April 1978 erhielt die technische Abteilung 31 im MfS ein Unterstützungsersuchen von der Berliner Abteilung XVIII/l. Diese für »operativ-technische Aufgaben« verantwortliche Abteilung sollte unsere »Wohnungstür konspirativ schließen«, also öffnen. Zuvor war für 14 Tage ein »Auftrag D« genehmigt worden, eine Operation zur Bild- und Videodokumentation. Man wollte unseren Kontaktkreis identifizieren und Hinweise zu Kontakten zum Brüsewitz-Zentrum überprüfen.

Das Brüsewitz-Zentrum war im Sommer 1977 in Bad Oeynhausen gegründet worden. Diese sich als konservativ-christliche Menschenrechtsorganisation verstehende Vereinigung hatte es sich zum Ziel gesetzt, Christen moralisch, juristisch und materiell zu unterstützen, die im Osten unter Druck geraten waren. Selbstverständlich nahm die Stasi dieses Zentrum als gefährliche Feindorganisation unter ihre Fittiche50 und setzte hierfür die HA XXII (Terrorabwehr) ein.

Ohne viel darüber zu wissen, hatten wir zu dieser Einrichtung keine positive Meinung. Auch wir waren auf politischem Entspannungskurs und meinten, dass sich hier entspannungsfeindliche Kräfte Oskar Brüsewitz auf ihre Fahne hefteten. Die Stasi kannte unsere Haltung durch den IM »Rainer Winter«, blieb jedoch misstrauisch.

Für die »Massnahme D« stellte Nachbar »Chemiker« seine Wohnung zur Verfügung. Man hatte durch Telefonabhören erfahren, dass wir verreisen wollten. Die Offiziere Winkler und Kliemann begleiteten uns und hielten uns mehrere Tage im Auge. In der Zwischenzeit wollte man im Hausflur die Bildaufzeichnungstechnik installieren und die Wanzen einbauen. Bei der Wohnungsdurchsuchung wollte die Abt. 26 dabei sein, um das Wohnzimmer zu fotografieren »für den späteren D-Auftrag«, also das konspirative Anbringen von optischer Überwachungstechnik in unserer Wohnung. Sodeik legte für die Wohnungsdurchsuchung die Ziele fest: Lage von Materialien, Verbindungen in den Westen und zum Brüsewitz-Zentrum, Schriftprobe von der Schreibmaschine, Herstellen von Schlüsselabdrücken, Prüfen der Fotoausrüstung. Indes fand das geplante Eindringen in unsere Wohnung erst am 10. Juni 1978 statt, unter der Leitung von Hauptmann Rudi Günzel.51 Wir verbrachten mit unserem Freundeskreis einige Tage in der Nähe von Magdeburg. Die geplante Schriftprobe wurde genommen, Adressen aus dem Schreibtisch und mein Brüsewitz-Material fotografiert, man fand eine für zwei Nächte geliehene Kopie von Rudolf Bahros Die Alternative sowie viele Fotos und Negativmaterial, darunter die Negative meiner Brüsewitz-Fotos. Man entdeckte auch den Artikel aus der »Kölnischen Rundschau« zum ersten Todestag von Brüsewitz mit dessen Portrait. Lob der Faulheit: »Eine intensivere konspirative Durchsuchung war aufgrund der z. T. umfangreichen Staubablagerungen nicht möglich.« Gleich am Nachmittag bestellte Hauptmann Günzel über seinen Vorgesetzten Oberstleutnant Wiesner, Chef der Abteilung XVIII, bei der technischen Abteilung 31 Schlüssel von den heim Einbruch angefertigten Abdrücken. Die uns bearbeitende Abteilung war nun ohne »Schließer« in der Lage, jederzeit in unsere Wohnung einzudringen.

Dem Einbruch war eine neue Operativplanung vorangegangen. Ziele waren weiterhin Beweisbeschaffung, Motivermittlung und Vorbeugung. Bearbeitet wurden wir unter zwei Gesichtspunkten: 1. unser Zusammenhang mit der Elias-Gemeinde in Berlin-Prenzlauer Berg und unseren Freunden und Bekannten und 2. der Zusammenhang von Dietmar Meckel mit uns und dem Brüsewitz-Zentrum. Dazu sollten die IM »Rainer Winter« und »Chemiker« eingesetzt sowie aus dem Freundeskreis weitere IM gewonnen werden. Zu kooperieren war mit der Kirchenabteilung XX/4, der Abt. 22 (Antiterroreinheit) und der Zeitzer Stasi. Bei erkannten Westbeziehungen waren »die operativen Maßnahmen Ein- und Ausreisefahndung« und die Postkontrolle einzuleiten.52 Auch mit der Ermittlungsabteilung IX waren Abstimmungen vorgesehen.

 

   

 

 

 

 

 

 

 

 

50 BStU, ZOV »Märtyrer«, ZOV 12818/86.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

51 Die Eindringlinge gehörten zu den »Kräften« der Abteilung XVIII, Operativgruppe Nachrichtentechnik- und Datenverarbeitung, die für meine Arbeitsstelle (Institut für Nachrichtentechnik) verantwortlich waren, zum Referat 1 sowie zur technischen Abteilung 32.
 

 

 

 

 

52 Besonders darunter zu leiden hatte der Kontakt mit Marlies Hambücker aus Aachen. Selbst in keiner Weise in der von der Stasi verfolgten Angelegenheit engagiert, schickte Sie uns Pakete mit freundlichen Geschenken, besonders Büroartikel. Diese Sendungen kamen regelmäßig in stark beschädigtem Zustand an. Nicht-Einschreibsendungen beider Richtungen gingen verloren, Telefonverbindungen wurden unterbrochen, und Frau Hambücker erhielt telefonisch die drohende Aufforderung, den Kontakt mit unserer Familie abzubrechen. Der Postkontrolle fielen auch D-Mark-Scheine von Westverwandten zum Opfer. Wie eine Jagdtrophäe wurden Kuvert und Schein fotografiert, bevor das Geld zum staatlichen Diebesgut wurde.

 

Picknick mit Zaungästen und verdrängten Angsten

Anfang August 1978 trafen die beiden Oberleutnants Sodeik und Salminkeit eine Abstimmung mit Oberstleutnant Franz und Major Henning von der Stasi-Terrorabwehr. Letztere »bearbeitete« das Brüsewitz-Zentrum.53 Die Antiterroristen informierten über einen aktuellen Besuch eines Vorstandsmitgliedes des Brüsewitz-Zentrums in Stralsund, und dass dieser möglicherweise auch Berlin oder Zeitz besuchen könnte. Es sei durch diese Einrichtung vom 18. bis 22. August eine Brüsewitz-Ehrung geplant.

Mehrere Anlässe zum Feiern in unserem Freundeskreis gab es um den 20. August. Also organisierten wir eine größere Zusammenkunft für Berlin. Wir wollten in Berlin-Grünau am Strand ein Picknick abhalten und abends in unserer Wohnung weiterfeiern. Mit eingeladen waren auch zwei befreundete Familien aus West-Berlin. Die Zeitzer Stasi bekam durch Telefonabhören Wind davon und hielt es für möglich, dass diese Begegnung einen Zusammenhang mit den Feierlichkeiten des Brüsewitz-Zentrums haben könnte. Am 8. August sprach Sodeik einen Auftrag zur Beobachtung mit Major Mayn von der Abteilung VIII (Beobachtung / Ermittlung) ah. Vom Freitag, den 18. August 1978 bis Sonntag, den 20., 16 Uhr, standen wir unter »operativer Kontrolle«.
Wir trafen uns Sonnabend vormittag am S-Bahnhof Schönhauser Allee, um gemeinsam zur »Bammelecke« nach Berlin-Grünau zu fahren. Mir fielen gleich am Anfang verschiedene Männerpaare auf, die mit jenen angestrengt gelangweilten Blicken oder stundenlangem ergebnislosere Fahrplanstudium ihre Herkunft verrieten. Ich zeigte sie Dietmar, doch dieser zuckte mit den Achseln. In Grünau wurden wir von einer Gruppe ebenso gelangweilt blickender junger Männer empfangen. Ihr Blick war zunächst auf die S-Bahn-Treppe gerichtet, von der wir kamen, danach auf die Straßenbahnhaltestelle gegenüber, als wir dort warteten. Diese Wendung hatte auch ein Aktenkoffer mitgemacht, der zwei auffällige Löcher hatte.

Mit großem Hallo wurden die neu hinzugekommenen Freunde begrüßt, mit denen wir uns jetzt trafen. Mich hatte die Beobachterei jedoch schon so genervt, dass ich verschiedene Leute daraufhin ansprach. Doch allein Dietmar verstand die Situation, regte sich aber nicht darüber auf. Den schönen Sommertag verbrachten wir auf der Wiese und im Wasser, spielten Ball mit den Kindern und sangen. Um uns herum Gestalten in Jacke und mit Aktentaschen. Ein Pärchen platzierte sich in unserer Nähe und bediente anscheinend ein Tonbandgerät in seiner Tasche. Niemand aus der Gruppe war bereit, diese Typen zur Kenntnis zu nehmen. Die Heimfahrt war nicht minder abenteuerlich. Dietmar machte sich einen Spaß daraus, mit großer Hektik alle zum Rennen auf die scheinbar ankommende Straßenbahn anzutreiben. Die Beobachter rannten mit, mussten aber erkennen, dass die Bahn noch lange auf sich warten ließ. Dietmars Hund Tramp erschreckte die Genossen.

Liebgard und ich fuhren mit meiner Kollegin Gerhild Zyprian per Pkw nach Hause. In einem Seitenwaldweg stand ein Lada, über den ich sagte: »In amerikanischen Krimis würde uns dieser Wagen jetzt verfolgen.« Was er dann auch tat. Beim Tanken warteten sie sogar im Halteverbot auf uns. Alle Zickzack-Touren machten sie mit. Als wir in die Wohnung kamen, sagte Dietmar demonstrativ laut: »Da müssen wir doch gleich die Steckdosen nachsehen« - nach Mikrofonen. Dieses Zitat fand ich beim Aktenstudium in den Abhörprotokollen aus jener Zeit, dazu auch die Fotos, die aus den kleinen Bullaugen des Aktenkoffers heraus am Bahnhof Grünau und anderswo geschossen worden waren.

Nach und nach trafen die übrigen Gäste in der Wohnung ein. Manche waren so offensichtlich beobachtet worden, dass wir an demonstrative Maßnahmen der Stasi glaubten. Vermutlich war das aber nicht so gemeint, wenn auch in einem späteren Bericht zu lesen ist, dass wir durch derartige Mittel verunsichert worden wären. Das vom Stützpunkt Nachbarwohnung aus akustisch kontrollierte Zimmer war - Pech für die Überwacher - das Schlafzimmer für die Kinder, so dass sie von der eigentlichen Party nichts mitbekommen konnten. Am Sonntag abend diktierte Hauptmann Günzel einen ersten Bericht. Von den 16 Teilnehmern, die er auflistete, sind drei falsch und vier noch nicht zugeordnet. Zwei Tage später konnte er Genaueres berichten. lm Oktober identifizierte »Rainer Winter« unsere Freundin B.. ebenfalls Diplom-Psychologin, als Teilnehmerin an diesem Picknick. B. gehörte zu denen, die unsere Feststellungen als so etwas wie das Produkt überspannter Phantasien oder einer Selbstüberschätzung wertete. Als ich nach der Party einige Dinge per Fahrrad zu ihr zurückbrachte und - noch schnaufend - berichtete, dass ich soeben von einem Auto begleitet worden war, erntete ich ein ironisches Lächeln. Beim Verlassen der Wohnung sah ich den Fahrer des Autos. den meine schnelle Rückkehr sichtlich überraschte, mit einem riesigen Kofferradio am Ohr im Hauseingang stehen. Aber auch meine Frau Liebgard mochte die Beobachterei nicht richtig ernst nehmen. Als die Beobachtungen immer mal wieder durch mich festgestellt und sogar verifiziert wurden, glaubten das nur sehr wenige Freunde. In dieser Zeit fühlte ich mich sehr einsam.54

 

   

 

 

53 Die Abt. 22 (Antiterroreinheit) war eben doch keine gewöhnliche Polizeitruppe, die so in allen Ländern existiert, wie das heute von ehemaligen Mitgliedern behauptet wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

54 Die Psychologin Annette Simon beschreibt dieses Phänomen: Die Menschen wichen der Angst aus, denen sie unweigerlich bei der Wahrnehmung dieser bedrohlichen Aktivitäten ausgesetzt waren, indem sie diese einfach übersahen, verdrängten. Vgl.: Versuch, mir und anderen die ostdeut-sche Moral zu erklären, Gießen 1995, S. 67 ff. - Problematisch ist jedoch die Auswirkung auf die Gegenwart: Auch die Erinnerung daran weckt Ängste, so dass man sich die DDR-Zeit lieber schön träumt als ernsthaft analysiert. Simon fragt, ob diese Blindheit mit einer deutschen Tradition und Kultur der Angstunterdrückung zusammenhängt. Auch andere Parallelen könnte man ziehen: Beim Picknick hatte die Beschäftigung mit den Kindern und die Gespräche über Kindererziehung Priorität, für eine Wahrnehmung bedroh-licher Umgebung war keine Aufmerk-samkeit vorhanden. Nach der Wende haben sich viele unserer Freunde eine neue Existenz aufzubauen, was ebenfalls für die Wahrnehmung und Würdigung des Gewesenen - und damit auch der Erfahrung der Bewahrung und des bewährten Vertrauens - kaum Kraft lässt.

 

IM »Rainer Winter« als Gast in Zeitz

Unser jährliches Oktobertreffen in Zeitz stand bevor. Schon lange war die Zeitzer und Berliner Stasi interessiert daran, in diesen Kreis einzudringen. »Rainer Winter« hatte mich zwar bereits nach Dietmar Meckel befragt, ein Kontakt war aber immer noch nicht zustande gekommen. Das sollte sich jetzt ändern. Ende September 1978 tauschten der Zeitzer Stasi-Chef Held und seine Berliner Genossen Günzel und Salminkeit ihr Wissen zu den »Apostel«- und »Untergrund«-Personen aus. Wieder vermutete man Verbindungen zum Brüsewitz-Zentrum. Gemeinsam wertete man Fotografien aus.

Wenige Tage später, am 2. Oktober, besuchten Salminkeit und Günzel den IM »Rainer Winter« in dessen Wohnung. Ziel waren die »Verbindungsaufnahme« zu unserem Freundeskreis, die Absprache der »Zielstellung« des Treffens und die Identifizierung der Personen, die im August von der Beobachtungsabteilung fotografiert bzw. deren Stimmen aufgezeichnet worden waren. Ein persönliches Gespräch mit dem IM über »aufgetretene aktuell-politische Fragen« sollte das Ganze einrahmen. Als »Legende« bekam er auf den Weg: Interesse an dem damaligen Vorkommnis Brüsewitz.

Dietmar Meckel fragte mich, was ich denn von »Rainer Winters« Besuch halte. Ihm kam die Sache spanisch vor, aber ich beruhigte ihn: Soll er kommen, wir haben keine Geheimnisse. Am 13.Oktober waren seine beiden Auftraggeber wieder bei »Winter«. Er sei sehr offenherzig aufgenommen worden, berichtete er den zufriedenen Offizieren. Sofort nach seiner Ankunft am Sonntag habe er sich als Sänger am Gottesdienst beteiligt. Am Nachmittag sei er mit nach Rippicha gefahren. Von Frau Brüsewitz habe er sich das Grabdenkmal deuten lassen: Jesus lächelt am Kreuz - Sieg über den Tod. Und Dietmar habe ihm erzählt, dass die Stasi zum zweiten Jahrestag sehr auffällig das Gelände gesichert habe. »Winter« erzählte seinen Führungsoffizieren weiter, dass wir ihm und anderen von den Beobachtungen im August berichtet hatten. Und er tat den beiden Offizieren eine Möglichkeit der Einflussnahme auf: Ich wolle meine Arbeitsstelle aufgehen und an der Humboldt-Universität anfangen. Diese Entscheidung war bei mir schon weit gediehen, ich hatte die notwendigen Gespräche geführt, eine verbindliche Zusage in der Tasche und mich bereits mit einer großen Party von meinen Kollegen verabschiedet. Doch es kam anders. Salminkeit notierte unter »Maßnahmen«: Information über meine Absicht an die zuständige Stasi-Abteilung und: »Zielstellung ist Ablehnung«. Ergebnis: Mein künftiger Vorgesetzter, Professor Bodo Wenzlaff, den ich sehr schätzte, bestellte mich zu sich und meinte, dass man es sich anders überlegt habe. Ich kämpfte nicht um diese Stelle.55

Durch unsere nachweisbare Abwesenheit hatte die Stasi leichtes Spiel damit gehabt, wieder einmal die Wohnung zu durchstöbern. Am 4. Oktober 1978 hatten »unsere Betreuer« bei ihrem Chef Oberst Hähnel eine »konspirative Wohnungsdurchsuchung« beantragt. Ziel war die Suche nach weiteren Beweisen für staatsfeindliche Tätigkeit. Die Durchsuchung wurde am 7. Oktober, diesmal durch die Ermittlungsabteilung VIII/3, realisiert, deren Referatsleiter Bleckert erfreut feststellte, dass die »durch den Auftraggeber zur Verfügung gestellten Schlüssel« einwandfrei funktionierten.

Bevor die Ausbeute dieses »Besuches« vollständig ausgewertet war, hatte Oberleutnant Salminkeit einen neuen Sachstandsbericht zu verfassen. Die Ergebnisse der Durchsuchung vom Juni fanden ebenso Eingang wie Informationen der Schnüffelkollegen aus Zeitz. Viele der Feststellungen trafen nicht zu. Die Stasi-Maßnahmen versorgten die Arbeitsgruppe jedoch auch mit Wissen, das uns hätte gefährlich werden können. Beim Picknick hatte man die zwei West-Berliner Familien identifiziert. Heidrun und Jo Rodejohann waren Politologen an der FU und besuchten uns öfter. Jo besorgte auch diverses Material für Pfarrer Pahnke und den DDR-Kirchenbund. Arbeitsschwerpunkt der beiden war Rüstung und Abrüstung. Heidrun war mehr historisch interessiert. Sie hatte wenige Jahre zuvor über die Wehrerziehung in der DDR gearbeitet. Es fiel nicht auf, als ich eines Tages im Haus des Lehrers am Alexanderplatz erschienen war und um Material hat. ich bekam die nur für den internen Schulgebrauch vorgesehenen Unterlagen ohne irgendeine Rückfrage und hatte so etwas zur Arbeit von Heidrun beitragen können. Auch der Transport in den Westen klappte. Die Ergebnisse wurden 1976 bei Rowohlt publiziert.56 Heidrun wollte - wie die meisten westlichen Politikwissenschaftler dieser Generation - keinesfalls antikommunistische Propaganda betreiben, kam in ihrem Beitrag jedoch zu dem Schluss, dass in der DDR eine »systematische Militarisierung des Bildungswesens« vonstatten gehe.

Gegen massive Proteste der Kirchen hatte Ministerin Margot Honecker im September 1978 den obligatorischen Wehrkundeunterricht in den Schulen eingeführt. Somit wurde dieser Fund für unsere »Bearbeiter« besonders interessant. Später wird man der Frage nachgehen, ob Heidrun durch uns an Material herangekommen sein könnte.

 

   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

55 Im Dezember 1994 fragte ich bei Wenzlaff an, ob er über diese Vorgänge Genaueres berichten könne. In seiner Antwort beschrieb er die Prozedur bei Einstellungen, bei der immer die Kaderabteilung entschied. Einzelheiten konnte er nicht berichten. - Der Philosoph Wenzlaff war wegen seiner mit Havemann geführten philosophischen Auseinandersetzungen in Ungnade gefallen und wurde schrittweise degradiert. Ich erlebte ihn noch im (Pflicht-) Fach Marxismus/Leninismus, wo ich seine Vorlesungen und Seminare in guter Erinnerung habe. Später hatte er sich in der Industrie zu bewähren und kam als Informatiker zurück an das Rechenzentrum der Uni, wo ich mich bewarb.
 

 

 

 

 

 

 

 

 

56 Studiengruppe Militärpolitik (Hrsg.), Die Nationale Volksarmee. Ein Anti-Weißbuch zum Militär in der DDR, Hamburg 1976.

 

Ein neuer »Operativplan«

Auf der Grundlage des neuen Sachstandsberichtes von Salminkeit stellte man im Januar 1979 eine neue Planung auf.57

Ausgangspunkt ist der Vorwurf der staatsfeindlichen Hetze durch das Versenden von Liebgards Abschrift des Kunze-Interviews.58 Salminkeit musste feststellen, dass alle übrigen Aktivitäten »unter den Grenzen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit« geblieben seien, andererseits sah er hei uns eine »feindlich-negative Grundeinstellung«. Hinweise oder Erkenntnisse »über eine feindliche Wirksamkeit« im Arbeitsbereich oder in unserer Kirchengemeinde hatte er nicht, aber aus den abgehörten Gesprächen leitete er ab, dass wir uns mit dem Inhalt des Interviews identifizierten, so dass er eine »feindliche Untergrundtätigkeit« nicht ausschließen wollte. Um das herauszufinden, sollten »Prüfungshandlungen« klären, ob wir unseren westlichen Freunden »Nachrichten« übermittelt hätten und ob diese DDR-feindlich agierten. Zu verstärken war die Wirksamkeit der IM. Zu den Zielstellungen gehörte die »Zersetzung des operativ-relevanten Personenkreises«. »Rainer Winter« erhielt die Aufgabe, zu klären, ob »Glaubensfragen Ursachen für eine zeitweilige Gegnerschaft zur DDR und ihrer Politik« sind. Bei »gesellschaftlichen Höhepunkten« sollten wieder Wanzen eingesetzt werden. Aus unserem Freundeskreis und aus dem Arbeitsbereich wollte man je einen weiteren IM werben. Unsere westlichen Freunde sollten bei Besuchen unter Beobachtung stehen, IM und die Arbeitsgruppe Koordinierung der Hauptverwaltung Aufklärung, die Auslandsspionageabteilung, hatten deren Umfeld abzuklären. Das bereits genannte NVA-Buch war darauf zu untersuchen, »ob die verarbeiteten Informationen im Sinne §98 StGB auszulegen sind«. Dieser Paragraph war eingeführt worden, um trotz Entspannung eine Handhabung gegen Leute zu ermöglichen, die nicht-geheime, aber für die DDR schädliche Informationen weitergaben. Darauf standen zwei bis zwölf Jahre. IM sollten kompromittierendes Material zusammentragen, das zur Zersetzung unseres Freundeskreises, besonders zur »Herstellung eines Misstrauens im Verhältnis« zwischen Pfarrer Meckel und mir, einsetzbar war.

Das erste März-Wochenende 1979 verbrachten wir wieder mit vielen Freunden bei Dietmar Meckel in Zeitz. Es sollte für uns das letzte seiner Art werden. Nach einer sehr langen Diskussion lösten wir unsere Beziehung. Zu unterschiedlich waren unsere Ansichten über wesentliche Lebens- und Glaubensfragen. Die Freunde bedauerten das und sprachen am Telefon wohl sehr offen darüber. Die Stasi Zeitz erfuhr unsere Entscheidung durch Abhören des Telefons, wusste jedoch nicht den Grund für unsere Trennung und beauftragte »Rainer Winter«, das herauszufinden. - Später werden sich die Berliner Genossen damit brüsten, uns planmäßig auseinander gebracht zu haben.59

Am 24. März 1979 feierten wir in Berlin mit Rodejohanns und einigen Berlinern und Magdeburgern eine große Frühlingsfete in unserer Wohnung. Diese war auch ein Fest für die Stasi. Sie hörten nämlich die gesamte Veranstaltung ab. Unser Konzept für den Abend kam den Lauschern sehr entgegen: Wir spielten ein Vorstellungsspiel. Jeder berichtete über sich, seine Wünsche und Ziele. Schon im Juli 1979 wurde ein neuer Antrag auf Abhören gestellt. Zielstellung dabei war die Aufklärung unserer Vorhaben, die Beobachtung unserer Reaktionen auf den Einsatz von »Rainer Winter« sowie auch dessen Überprüfung. Salminkeit stellte erst bei der Vorbereitung dieser Maßnahme fest, dass wir »vermutlich Telefon besitzen«, was durch »Winter« bestätigt wurde.60 Gleich zweimal ließ Günzel den Bericht »Winters« über seinen Besuch bei uns am 10. Juli vom Band abtippen; das erste Mal war zu ungenau hingehört worden. Eine Woche später war »Winter« wieder bei uns, diesmal bis zum späten Abend. Er fragte mich über meine Meinung zu den Schriftstellern der DDR aus, die gerade aus dem Verband ausgeschlossen worden waren. Ein Telefonanruf von Jo aus West-Berlin erregte seine besondere Aufmerksamkeit. Es war ihm aber nicht möglich, den Termin des abgesprochenen Treffens herauszubekommen.

 

   


57 OPK/OV »Apostel« (Anm. 21), Bd. 1, S. 66 ff.

58 Nach § 106 StGB. Vermerkt ist, dass man diesen Brief nicht als Beweis verwenden konnte, weil er »inoffiziell gesichert wurde«. Die früher genannte, peinliche »unzulässige Veränderung am Beweismittel«, die eine Legalisierung verhinderte, wird nicht noch einmal genannt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

59 Diesen Brauch der Stasi-Offiziere, sich nicht erbrachte Leistungen zuzuschreiben und damit aufzuwerten, habe ich mehrfach in solchen Unterlagen gefunden, deren Inhalte ich überprüfen konnte. So meldete die Stasi später die erfolgreiche «Versetzung einiger Zeitzer Pfarrer >,mit Hilfe« der Magdeburger Kirchenleitung, eine Meldung, die heute natürlich auch bestimmte politische Sichtweisen bedient. Für mich als Laien ist es verwunderlich, warum die Fachleute bei derartigen Zusammenhängen auf die Möglichkeiten des persönlichen Interviews mit Zeitzeugen (oral history) so beharrlich verzichten, vgl. etwa H. Müller-Enbergs (Anm. 25).

 

60 Freunde wiesen lachend darauf hin, dass es nur zwei Gründe dafür geben kann, wenn man innerhalb eines Jahres einen Telefonanschluß bekommt. Ich hatte den Wohnungsnachbam, IM «Chemiker«, gefragt, wie er denn zu seinem Anschluss gekommen sei, worauf er auf die Unterstützung durch seine Arbeitsstelle verwies. Das versuchte ich dann auch (worüber «Chemiker« berichtete), und innerhalb eines Jahres erhielt ich den Anschluss. Salminkeit zeigt sich hier überrascht; es scheinen also gelegentlich doch mehr als zwei Gründe zu einem Telefon geführt zu haben! - Der «Chemiker« hatte das Telefon tatsächlich über die Stasi erhalten und nutzte es später als Decktelefon für Kontakte u. a. mit westdeutschen Stasi-Mitarbeitern.

 

Der OV »Apostel« wird abgeschlossen

Am 16. Juni 1980 bestätigte der »Stellvertreter Operativ« der Stasi-Bezirksverwaltung Berlin, Oberst Hähnel, den von Rudi Günzel, inzwischen zum Major befördert, und Abteilungsleiter Oberstleutnant Wiesner erarbeiteten Vorschlag zum Abschluss des Operativen Vorganges »Apostel«. Unter den »Ergebnisse[n] der Bearbeitung« stellte man fest, dass wohl keine Kontakte zum Brüsewitz-Zentrum bestanden hätten. Man registrierte eine »negativ-feindliche politische Einstellung« sowie »persönliche Kontakte zu einem gleichgesinnten Personenkreis«, der relativ stabil sei, aus aktiven Gliedern jeweiliger Ortsgemeinden der evangelischen Kirche bestehe und in die verschiedensten DDR-Bezirke hineinreiche.

Die Schwelle strafrechtlicher Verantwortlichkeit sei nicht überschritten worden, und wir hätten uns aufgrund demonstrativer Stasi-Maßnahmen verunsichert zurückgezogen. Gleichzeitig deutete Günzel meine Berichte im Freundeskreis über die beobachteten, also nicht geträumten Stasimaßnahmen als persönliche Aufwertungsversuche im Bekanntenkreis. Unter Hinweis auf IM-Einsatz und andere Maßnahmen behauptete er den üblichen Vorwurf, dass ich »im Rahmen s[m]eines Engagementes in der evangelischen Kirche ein Mittel« gesehen hätte, »Opposition zur sozialistischen Gesellschaftsordnung betreiben zu können«. Für erforderlich hielt es Günzel, »die unter 4.1.1. vorgenommene Kategorisierung des Z. im Vorbeugungsdokument aufrechtzuerhalten«, womit die weitere Bearbeitung einzustellen und zu archivieren sei. Kategorie 4.1.1. hieß nichts anderes als Verhaftung und Internierung im Krisenfall.61

 

   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

61 Unter dieser Kennziffer waren aufzunehmen: »alle Personen, die unter dem dringenden Verdacht stehen, staatsfeindliche Handlungen gegen die DDR zu begehen, zu dulden bzw. davon Kenntnis zu haben«. Vgl. Thomas Auerbach, Vorbereitung auf den Tag X. Die geplanten Internierungslager des MfS, BStUIBF, Analysen und Berichte, Reihe B, Nr. 1/95.

 

Nach der Wende

Die Öffnung der SED- und Stasiakten ermöglichte es, Einblicke in die politischen Zielvorstellungen, Taktiken und die Rezeption der Wirklichkeit der Herrschenden zu nehmen. Dabei wurde der Streit um die Rolle der Kirchenleitung im Fall Brüsewitz. neu entfacht. Wissenschaftlich präzises Arbeiten hätte erbringen müssen, wie eine herrschafts-bürokratische Sprache in ihrer Semantik zu hinterfragen und zu deuten ist.62 Bedauerlicherweise war das nicht immer der Fall63.

Bei diesem Nachwende-Streit sollte nicht vergessen werden: Oskar Brüsewitz war kein Held und kein Märtyrer im klassischen Sinne. Aber er hat etwas ausgelöst und Spuren hinterlassen, Folgen, die weder von ihm selbst beabsichtigt noch im Blick der Kirche waren. Geholfen hatte ihm dabei die - nicht nur in ihrer Sicherheitsdoktrin - letztendlich selbst-destruktive totalitäre Ideologie, gegen die er sich so aufgeregt zur Wehr setzte. Innerhalb der Kirche wurde manches richtig gestellt, die Diskussion um klare Aussagen neu entfacht, eine vorsichtige Öffnung zu anderen kritischen Teilen der Gesellschaft befördert. Merkte die SED, dass sie anders mit diesem für sie nicht fassbaren Gebilde Kirche umgehen muss? Viele führen das in seiner Wirkung umstrittene, aber von der Kirche lange eingeforderte Gespräch vom 18. März 1978 auch auf die Ereignisse um und nach Brüsewitz zurück. Zwar ließ die Volksbildung nie mit sich reden, aber die Zulassungspolitik musste gelockert werden - zugunsten eines größeren kritischen Potentials bei den besser Ausgebildeten. Wer wollte das gering achten angesichts der Aufgaben, die 1989 zu lösen waren?

 

   

 

62 Vgl. Ulrich Schröter: «Die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz. Interpretationsregeln. Zum Umgang mit MfS- und SED-Schrifttum«, Zwie-Gespräch Nr. 16
(1993): auch in Horch und Guck 11/1994, S. 67-74.

63 Vgl. die unterschiedlichen Herangehensweisen und Sichten bei: Helmut Müller-Enbergs, Das Zusammenspiel von Staatsicherheitsdienst und SED nach der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz aus Rippicha am 18. August 1976, BStU (Analysen und Berichte), Berlin, März 1993; ders. (Anm. 25); H. Schultze (Anm. 19); G. Besier (Anm. 33).

 

Weiter zusammen leben

Keinesfalls empfinde ich Rachegefühle, wie es denen immer wieder unterstellt wird, die die Vergangenheit nicht unbesehen vergessen wollen. Ich habe unsere Akte wie eine befreiende Osterpredigt lesen können und weiß wohl, dass das nicht jeder kann. Mit den auf uns angesetzten IM habe ich versucht, in Kontakt zu kommen. »Rainer Winter« war sofort bereit zu einem Gespräch und bat routiniert um Verzeihung und Vergebung, die ihm zuteil wurde. Wie aber reagiert er auf den heutigen Anpassungsdruck? Mit »Adam Ries« gab es 1995 ein interessantes Gespräch, in dem er Lebensirrtümer einräumte, sonst aber eher Rechtfertigungen vorbrachte. Kann man mehr erwarten? »Günter Lenz« wies jedwede Kenntnis böser Tat von sich, versprach Termine, drückte sich aber immer wieder. Bisher überhaupt nicht antwortete der »Chemiker«, unser früherer Nachbar. Schämt er sich? Nach der Bearbeitung des »Apostel« hatte er als IMK bis in den November 1989 hinein mehrere konspirative Stasi-Wohnungen betreut und dabei ganz gut zusätzliches Geld verdient. Aber vielleicht ist seine heutige Scham Zeichen eines ehrlicheren Verhältnisses zur eigenen Vergangenheit als bei den anderen. - IMB »Romeo« verzehrt heute im Ruhestand ein Treue-Geld. Dieses überweist ihr allerdings nicht Hauptmann Bartosch aus Zeitz, sondern die Kirchenleitung in Magdeburg. Diese war bislang zu keiner Stellungnahme bereit - obwohl ihr alle Fakten bekannt sind. Sogar in den Kirchengemeinden und ihren Kreisen wird die Verdrängung der Ängste, die man in der Vergangenheit durchlebte, weiter gepflegt. Nur wenige wollen sich erinnern, daran erinnert werden, dass man sich hier und da zu kleingläubig verhalten hat - wer könnte das Gegenteil von sich behaupten? Aber Verdrängung in einer Kirche, deren reformatorische Wurzel die Schuldvergebung allein aus dem Glauben ist?

Gegen Ende 1989 versammelte sich das Neue Forum Berlin Prenzlauer Berg im Gemeindesaal der freikirchlichen Baptistengemeinde in der Cantianstraße. Deren Prediger begrüßte die Teilnehmer und erzählte Jesu Geschichte von dem bösen Geist, der ausfuhr und keine Ruhe fand, dann aber mit sieben böseren zurückkehrte (Luk. 11, 24-26). Sicherlich war das nicht als Verharmlosung des gerade ausgetriebenen »Geistes« gemeint. Wie aber wird man sich gegen die anderen bösen Mächte wappnen können, wenn man die Erinnerung an die gerade erlebte verdrängt?

 

   
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