Stellungnahme von Viola Weinert,
Studienrätin und Lehrerin für Politische Bildung
Mitglied des Kreistages OSL    
27.09.02


Liebe Kolleginnen und Kollegen,

in meiner Leserzuschrift an die Lausitzer Rundschau habe ich Friedrich Engels einen Riesen an Denkkraft genannt, weil er in vielen Wissensbereichen theoretisch beschlagen war. Nun hat sich in dem Streit über die Namensgebung an einem Senftenberger Gymnasium ein Zwerg an Denkkraft zu Wort gemeldet, der Engels des Antisemitismus, der Befürwortung des Völkermordes und des Terrorismus' sowie a.m. bezichtigt. Sogar mit dem deutschen Faschismus wird Engels in Verbindung gebracht und Goebbels dafür als Kronzeuge aufgerufen. An der Stelle müsste eigentlich die Auseinandersetzung enden, denn unglaubwürdiger als mit dem Propagandaminister der Nazis kann man nicht werden. Weil sich aber die CDU nicht zu schade war, die Vorwürfe aufzugreifen und zu verbreiten, seien ein paar Bemerkungen dazu gemacht.

Die Beschuldigungen vorgebracht hat ein Herr Karl-Adolf Zech, seines Zeichens Doktor einer nicht genannten Fakultät. Sie gründen auf einer völligen Unkenntnis der Werke und des Denkens von Marx und Engels. Herr Zech unternimmt auch gar nicht erst den Versuch, in sie einzudringen. Eine Argumentation, mit der man sich auseinandersetzen könnte, entwickelt Herr Zech nicht; er trägt lieber im Stile eines Anklägers Anschuldigungen vor, die er glaubt, mit schlagenden Beweisen untermauern zu können. Zu dem Zweck reißt Herr Zech Zitate aus dem Kontext und zitiert sinnentstellend.

Das folgende Beispiel möge als Beleg für die Verdrehungen des Herrn Zech gelten: Um Engels des Aufrufes zum Völkermord bezichtigen zu können, zitiert Herr Zech aus einem Zeitungsbeitrag vom 18. Juni 1848 einen bestimmten Satz unter Weglassung anderer in der Absicht, eine Aussage konstruieren und sie Engels zuschreiben zu können. Der Satz lautet:

"Der Aufstand mag endigen wie er will, ein Vernichtungskrieg gegen die Tschechen bleibt jetzt die einzige mögliche Lösung."

Das klingt ganz so, als ob Engels dazu auffordert, das tschechische Volk auszulöschen. Wer den Text zu Ende liest, stößt auf die folgende Passage:

"Wer aber am meisten zu bedauern ist, das sind die tapfern Tschechen
selbst. Mögen sie siegen oder geschlagen werden, ihr Untergang ist gewiß. Durch die vierhundertjährige Unterdrückung von seiten der Deutschen, die jetzt in dem Prager Straßenkampf fortgesetzt wird, sind sie den Russen in die Arme gejagt. In dem großen Kampfe zwischen dem Westen und dem Osten Europas, der in sehr kurzer Zeit - vielleicht in einigen Wochen - hereinbrechen wird, stellt ein unglückliches Verhängnis die Tschechen auf die Seite der Russen, auf die Seite des Despotismus gegen die Revolution. Die Revolution wird siegen, und die Tschechen werden die Ersten sein, die von ihr erdrückt werden. Die Schuld für diesen Untergang der Tschechen tragen wieder die Deutschen. Es sind die Deutschen, die sie an Rußland verraten haben."

Was nun? Votiert Engels nun für die Vernichtung der Tschechen oder bedauert er sie ob ihres traurigen Schicksals, für das Engels die Deutschen verantwortlich macht? Verhöhnt er womöglich die Tschechen? Die Antwort ist simpel: Herr Zech vermag nicht (Oder will er nicht?) zwischen dem Standpunkt des Verfassers eines Zeitungsartikels und den darin vom Verfasser zitierten Positionen, die keineswegs dessen eigene sein müssen, zu unterscheiden. Weit davon entfernt, die Vernichtung des tschechischen Volkes zu verlangen, wie Herr Zech unterstellt, stellt Engels lediglich fest, dass die Tschechen in der 48er Revolution auf der falschen, der Seite des Despotismus kämpfen und deswegen den revolutionären Kräften unterliegen werden. Engels skizziert das Kräfteverhältnis der 1848er Revolution und das als durchaus parteiischer Beobachter, aber eben als ein Beobachter. Dass Engels auf der Seite der volksdemokratischen Kräfte und nicht auf der des zaristischen Russland gestanden hat, muss nicht eigens betont werden. Bekanntlich hat die Revolution von 1848 nicht gesiegt.

Herrn Zechs Lesekunststücke zeigen, dass nicht nur Fünfzehnjährige laut PISA-Studie schlecht Lesen können, sondern auch einige Doktoren. Zwischen den verschiedenen Textebenen vermag Herr Zech nicht zu unterscheiden. Er hält sich lieber an die platte Oberfläche des Textes und sucht sich das heraus, was ihm passt und was ihm nicht passt, das lässt er weg. Und so wirft er Engels vor, was dieser nie gefordert hat: Völkermord an den Tschechen zu verüben. Ob es Böswilligkeit oder Unfähigkeit ist, die Herrn Zech zu seinen völlig falschen Behauptungen verleitet, bleibe dahingestellt.

Ähnlich verhält es sich mit dem angeblichen Antisemitismus. Hier beruft sich Herr Zech hauptsächlich auf Marx' frühe Schrift "Zur Judenfrage" (1844). Marx ist der alleinige Verfasser dieses Textes. Er entstammt selbst einer jüdischen Familie. Marx macht sich in dem Text Gedanken über die Emanzipation der Juden. Diese könne erst in einer sozialistischen Gesellschaft erreicht werden. Bestimmten Teilen der jüdischen Bevölkerung ordnet Marx eine wirtschaftliche Funktion innerhalb der Bourgeoisie zu, die im Verlaufe der Geschichte einmal überwunden werden wird. Eine vergleichbare Funktion erfüllen für Marx auch die englischen Puritanern und die holländischen Calvinisten. Marx geht es folglich nicht um die Juden als Juden. Mit Antisemitismus hat seine Argumentation wenig zu tun. Dass sich Marx' These einer Assimilation der Juden in einer sozialistischen Gesellschaft als ein Irrtum herausgestellt hat, dürfte unbestritten sein. Jedoch können nur Riesen an Denkkraft auch kolossale Irrtümer hervorbringen, Zwerge an Denkkraft sind selbst dazu nicht fähig.

Einmal angenommen, Marx und Engels hegten tatsächlich antisemitische Gedanken, dann muss sich Herr Zech fragen lassen, ob er mit verschiedener Elle misst. Würde er sich genauso erregen, wenn die Senftenberger ihr Gymnasium nach Martin Luther benennen würden? Dieser hatte nicht nur zur Vernichtung der räuberischen Bauernrotten aufgerufen, er war auch ein Feind der Juden. Und wie verhält es sich mit Friedrich Nietzsche? Oder mit dem Komponisten Richard Wagner? Beide waren ausgewiesene Antisemiten. Taugen sie als Namensgeber für Schulen oder nicht?

Lassen wir es bei der Aufzählung bewenden, die Liste der Namen ließe sich beliebig erweitern. Mit ihr sei lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass es Herrn Zech nicht um eine historisch gerechte Beurteilung von Personen geht, die das Für und Wider abwägt. Herrn Zech geht es bloß ums Verdammen, ums Abfertigen und Erledigen. Das ist ein Ausdruck von Denkfaulheit. Feindbilder zu pflegen ist bequemer, als sie zu überprüfen und abzubauen. Indem Herr Zech anderen vorzuschreiben sucht, wie sie zu denken haben, und mit verbalen Ausfällen reagiert, wenn seiner Sichtweise nicht Folge geleistet wird, pflegt er selbst eine herrschsüchtige Denkweise. Seine Schwarz-Weiß-Sicht auf die Dinge akzeptiert nichts dazwischen. Die Einteilung der Welt in Gut und Böse ist aus dem kalten Krieg bekannt. Bedauerlicherweise erlebt sie eine Wiederauferstehung, insofern ist Herr Zech nicht allein. Der Name Friedrich Engels möge den Schülerinnen und Schülern in Senftenberg Ansporn sein, sich keiner derart grobschlächtigen Sichtweise zu befleißigen. Sie sollten vielmehr um Verstehen bemüht sein, auch und gerade der kompliziertesten Sachverhalte. Verstehen heißt ja nicht entschuldigen; es ist aber die Voraussetzung für ein eigenes Urteil, das auf Argumenten beruht, die man sich selbst erarbeitet hat. Der Beitrag des Herrn Zech sei daher zur Behandlung im Unterricht empfohlen: als ein Dokument der Denkfaulheit, die der Philosoph Immanuel Kant einmal als die Unfähigkeit, sich des eigenen Verstandes ohne Anleitung Fremder bedienen zu können, bezeichnet hat.

 

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