Rezension im Deutschland Archiv 5/2001, pp. 873
(mit freundlicher Genehmigung von Redaktion und Autor):

Der doppelte Spagat

Reinhard Buthmann, Berlin

Gerhard Barkleit: Mikroelektronik in der DDR. Hrsg. vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden (Berichte und Studien 29), Dresden 2000, 146 Seiten, 10 DM.

Mit den Physikern Matthias Falter und Werner Hartmann verknüpfen sich Erinnerungen an eine einst sehenswerte mikroelektronische Grundlagenforschung in der DDR, die phasenweise Weltniveau verhieß. 1970 wurden die ersten integrierten Schaltkreise in der DDR hergestellt. Demgegenüber bestanden neben einer hausgemachten schwachen Innovationskultur vor allem fortgeschriebene technologische Defizite, die sich bis Mitte der siebziger Jahre zu einem Rückstand von circa sieben Jahren aufschaukelten. Eine als Mikroelektronikplenum in die Geschichte eingegangene Tagung des ZK der SED vom Juni 1977, die zur Aufholjagd blies, kam letztlich zu spät. Die bereitgestellten finanziellen Mittel und Investititionen waren zu gering, Produktivität und Kosten lagen um bis zum Zehnfachen unter dem Westniveau. Mitte der Achtziger Jahre, als die Mikroelektronikindustrie der DDR bereits einen veritablen Rückstand von zwei bis drei so genannten technologischen Generationen aufwies, konzentrierte die SED-Führung, nicht zuletzt im Zuge militärischer Verpflichtungen, noch einmal alle Mittel und Möglichkeiten. Milliardenkredite für Investitionen und immense Anstrengungen auf dem Gebiet des illegalen Technologietransfers durch das Schalck-Imperium bewirkten jedoch keine Trendwende mehr. Die medienwirksame Übergabe eines 1-Megabitchips aus den Händen des Zeiss-Generaldirektors Wolfgang Biermann an Staats- und Parteichef Erich Honecker erwies sich letztlich als Bluff.

Gerhard Barkleit, von Haus aus Physiker und in den achtziger Jahren am »Zentrum für Forschung und Technologie Mikroelektronik« (ZFTM) in Dresden tätig, skizziert die politische Mechanik des Niedergangs auf diesem Gebiet. Dabei erweist sich seine fachliche Kom- petenz als Glücksfall bei der Vermittlung dieser schwierigen Materie. Er sieht vier Pole, die eine »autarke« Hochtechnologieentwicklung für die DDR unumgänglich machten: einerseits das »Embargo des Westens« und die »Kooperationsverweigerung des Ostens«, andererseits die »ökonomische Rationalität und ideologische Grundsatztreue«. Als alternativlosen »doppelten Spagat« spannen sie gleichzeitig den Bedingungsrahmen für das Desaster, den der Autor über ein theoretisches Konstrukt   - die »(Führungs-)Trias« - zu verifizieren sucht. Es ist die systematische Frage nach den drei Handlungssubjekten (Staatspartei, Staatsapparat und Staatssicherheit) und der Qualität ihres Zusammenwirkens bei der Entwicklung der Mikroelektronik, die die Arbeit auszeichnet.

Während das Embargoproblem in der einschlägigen Literatur hinreichend präsent ist, gibt es - gegenstandsbezogen - kaum Studien über die Kooperationspmis zwischen der DDR und der UdSSR. Der Autor spricht prononciert von Kooperationsverweigerung seitens der UdSSR. Tatsächlich litt die DDR permanent unter dem Umstand, spontaner Dienstleister zu sein, ebenso wie unter der Unzuverlässigkeit des »großen Bruders«.

Auffällig wird dies insbesondere auf dein militärischen Applikationsgebiet, wo die DDR auf Gedeih und Verderb der UdSSR ausgeliefert war: »Ohne präzise Vorgaben war eine originäre Entwicklung von Komponenten hochmoderner Waffensysteme absolut unmöglich. Und gerade diese präzisen Vorgaben konnte die Sowjetunion nicht liefern.«

Anschaulich wird dies im Falle des Hochtechnologieprojektes 016 belegt, einem optoelektronischen Zielsuchsystem für Raketen. Das Projekt bildete den eigentlichen Hintergrund für den groß angelegten Profilierungsbeschluss des ZK der SED für das Kombinat Carl Zeiss Jena aus dem Jahre 1983. Realiter war die mangelhafte Kooperation zwischen der DDR und der UdSSR nicht nur einer Seite anzutasten, sondern von systemimmanenter und somit wechselseitiger Bedingtheit. Immerhin wuchs allmählich die Einsicht der UdSSR, »weder aus eigener Kraft noch nur mit Unterstützung der DDR, die Probleme der Serienproduktion von technologischen Spezialausrüstungen und Bauelementen lösen zu können«. Ein Projekt der im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) assoziierten sozialistischen Länder, für 2,5 Milliarden Rubel 16 Institute mit circa 40 000 Beschäftigten nahe bei Moskau (»INTER-EWM«) zu er- richten, war zwar Ende 1988 endlich vertragsreif. Doch obgleich die DDR ihr Ja gab, setzte sie, leidgeprüft, weiter auf den eigenen Aufbau der Mikroelektronikindustrie, musste sie doch erfahrungsgemäß davon ausgehen, ohnehin keinen Zugang zum streng abgeschirmten rnilitärischen Raum der UdSSR zu erhalten. Autarkie war also notwendig geboten. Doch allein das Embargo des Westens desavouierte diese Autarkie im Kern, wenn weit mehr als nur die entscheidenden Komponenten der Mikroelektroniktechnologie aus dem Westen importiert werden musste und sie obendrein große Mengen der viel zu knappen Devisen verschlangen. Mithin erwies sich der Autarkieansatz als von aporetischer Natur.

Mittels des Konstrukts »Trias« wird die Frage erörtert, inwieweit dem MfS die Funktion eines »dritten Steuerungselementes« bei der Entwicklung der Mikroelektronik zukam. Dass der Autor sich weder um die Destruktionspotentiale der Staatssicherheit noch um deren normative Hauptaufgaben wie Geheimnisschutz und Kadersicherung sonderlich kümmert, ist wissenschaftlich legitim. Es ist die Konditionierung der Fragestellung nach der Stabilisierungsleistung des MfS, die die Arbeit methodisch interessant macht. Das MfS hatte weiland unter der Formel der »effektivitätssteigernden Maßnahmen« Ähnliches von sich behauptet, argumentierte aber unter dem Aspekt der permanenten »Arbeit gegen den allgegenwärtigen Feind« mit dem Integral all seiner Aufgaben. Folglich stellt sich die Frage, ob die Leitthese des Autors, wonach das MfS »für die Staats- und Wirtschaftsorganisation der DDR eine erhebliche Stabilisierungsleistung« (Klaus-Dietmar Henke) erbracht haben soll, auch für den Wissenschaftsbetrieb Gültigkeit besitzt. Hier ist anzumerken, dass dies für die Volkswirtschaft noch längst nicht bewiesen ist. Die Studie vermittelt zwar Argumente, dass »zumindest in der Hochtechnologie nichts mehr ohne das MfS« lief. Der Behauptung aber, dass es »im Bereich der Hochtechnologien« zuletzt »eine gewichtigere Rolle spielte als die Fachministerien«, kann der Rezensent nicht beipflichten.

Zur Rekonstruktion der Entscheidungs- und Implementierungsprozesse werden fünf formal identisch aufbereitete, aber höchst unterschiedliche Fallbeispiele zur Diskussion gestellt: das Mikroelektronikplenum, der Profilierungsbeschluss für das Kombinat Carl Zeiss Jena, die Entwicklung des Bezirkes Erfurt zu einem Mikroelektronikzentrum, der Technologietransfer sowie die Rolle Zeiss Jenas beim Versuch, eine komplette Bauelementefabrik nach Brasilien zu exportieren. Die jeweiligen Fazite - das »MfS spielte keine nennenswerte Rolle«; es »war in die Entscheidungsfindung eingebunden« und verhinderte den Verkauf der Bauelementefabrik - deuten unter Ausklammerung des illegalen Technologietransfers allerdings wenig auf eine substantielle Stabilisierungsleistung im intendierten Sinne hin. Zudem war die Beschaffung, wie generalisierend festgestellt wird, nur »punktuell erfolgreich«. Und selbst dies gilt betriebswirtschaftlich gesehen nur ceteris paribus. Karl Nendel, Staatssekretär im Ministerium für Elektronik und Elektrotechnik sowie als Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit (GMS) inoffiziell für das MfS tätig, steht dem Autor paradigmatisch für den Einfluss des MfS. Dies trifft so nicht zu. Nendel war allererst der Vertreter des Staatsapparates mit der Aufgabe der Planung, Bilanzierung, Vorbereitung und Finanzierung der meist illegalen Technologieimporte. Sein kongenialer Partner hingegen, Schaick-Golodkowski, war mit seinem MfS- inkorporierten Apparat (Bereich Kommerzielle Koordinierung) für die auslandsseitige Vorbereitung und Steuerung sowie vor allem für die Realisierung dieser Importe verantwortlich. Beide - respektive beider Apparat - waren in dieser Frage aufs Engste mit dem Wirtschaftspapst des ZK der SED, Günter Mittag, verbunden.

Das Schlussfazit der Studie fällt nicht überraschend aus, wenn festgestellt wird, dass »bei der Realisierung« des Mikroelektronikprogramms »auch Konflikte zwischen den drei Steuerungselementen« auftraten und »die führende Rolle der SED von niemandem in Frage gestellt« worden war. Die abschließende Frage, »ob der Übergang von der Doppelbürokratie zur Führungstrias die Effizienz des Industriezweiges Mikroelektronik erhöhte«, will der Autor »nicht eindeutig mit >Ja< oder >Nein<« beantworten. Dies wäre in der Tat auch zu weit gegriffen, da die Studie nicht zwingend belegt, dass es eine Führungstrias gegeben hat. Barkleit sagt es selbst: »Der Mielke-Apparat mobilisierte seine überlegenen Kräfte nur dann, wenn Handlungen des Staatsapparates den Sicherheitserfordernissen zuwider liefen.« Dies entsprach seiner ihm von der SED zugewiesenen Dienstleistungsfunktion.

Barkleits innovativer methodischer Ansatz, effektiven Stabilisierungsleistungen des MfS nachzugehen, verdient konsequent und vor allem unter betriebswirtschaftlichen Kriterien weiterverfolgt zu werden. Erst mit der Isolierung solcher Partikulärleistungen wird es möglich sein, deren Fraglichkeit und Natur zu verstehen. Freilich wäre die schwierigste Aufgabe, die Integration solcher Forschungsergebnisse in den Repressionscharakter des MfS, noch zu leisten. Dein Dresdener Mikroelektronikkollek- tiv um Professor Werner Hartmann, das zu Beginn der siebziger Jahre in beispielloser Art und Weise in konzertierter Zusanunenarbeit von SED, staatlichen Stellen und MfS systematisch vernichtet worden ist und in dessen Folge es mehrere langjährige Haftstrafen und etliche Karrierebrüche gegeben hat, sind wir dies schuldig.

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