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Rezension im
Deutschland Archiv 1/2002, pp. 172
(mit freundlicher Genehmigung von Redaktion und Autor): »Achtundsechziger« in Ost und West
Rainer Eckert, Leipzig
Annette Simon / Jan
Faktor: Fremd im eigenen Land? Psychosozial Verlag, Gießen 2000, 145 Seiten,
29,90 DM.
Nur selten wird die Stimmung
der ostdeutschen Revolutionäre des Jahres 1989 so präzise geschildert, wie es Annette
Simon und Jan Faktor immer wieder gelingt. Jetzt liegt ein Sammelband vor, dessen Themen
die politischen und gesellschaftlichen Konflikte in der DDR bzw. der Tschechoslowakei und
deren Auswirkungen in der vereinten Bundesrepublik sind.
Einleitend weist Annette Simon
auf die häufig vergessene Tatsache hin, dass es »Achtundsechziger« in West und
in Ost gegeben hat. Beide einte ein gemeinsames Lebensgefühl, doch war ihr Verhältnis
zueinander in den vergangenen Jahren von tiefer Enttäuschung geprägt: Während sich die
Ost-Oppositionellen 1968 am Westen orientierten, interessierten sich die revolutionären
Studenten des Westens kaum für die Vorgänge hinter dem »Eisernen Vorhang«. Das Trauma
der späteren Bürgerrechtier war die militärische Niederschlagung des Reformvesuchs am
kranken Realsozialismus in der Tschechoslowakei. Dies wirkt bis heute nach und führt
immer wieder zu Kommunikationsschwierigkeiten, die nur dann zu überwinden wären, wenn
der Westen sich stärker als bisher auf die Geschichte des Ostens einließe. Und noch
etwas ist - wie Simon zutreffend ausführt - notwendig: die Einsicht, dass die
Achtundsechziger in der Bundesrepublik eine Revolution wollten und eine grundlegende
gesellschaftliche Reform erreichten, während ihre Altersgenossen in der DDR eine Reform
wollten und letztlich eine Revolution in Gang setzten.
Auch Jan Faktor kommt zu dem
Schluss, dass die Ostdeutschen die Prager Ereignisse 1968 mit weitaus größerem Interesse
als die Bundesbürger verfolgten. Er beschreibt das Grundgefühl des »Prager
Frühlings«: das Gefühl, in einer angstfreien, offenen, solidarischen Gesellschaft zu
leben. Die Erinnerung daran lebte für alle Beteiligten fort. Bedrückend ist Faktors
Schilderung der »Normalisierung« der Jahre nach 1968, die in der Tschechoslowakei mit
einer totalen Desillusionierung verbunden war, während in der DDR noch manche Illusionen
über die Refonnierbarkeit des Systems der SED weiterlebten. Über dieses Phänomen ist in
den letzten Jahren viel gerätselt worden. Letztlich liegt seine Erklärung in der
deutschen Geschichte und in der privilegierten Situation der DDR im Ostblock begründet.
Faktor verweist auch auf den in seinem tschechischen Heimatland weitaus härteren Terror
gegenüber Oppositionellen. Dies ist richtig, führt jedoch zu dem Schluss, dass
schärfere Repression konsequentere Opposition hervorruft. Insgesamt kann die Opposition
in der Tschechoslowakei gegenüber derjenigen in der DDR als »bürgerlicher« und
stärker auf eine Zivilgesellschaft orientiert bezeichnet werden. In der DDR dagegen war
eine bis heute nachwirkende Attraktivität linker politischer Vorstellungen mit
spezifischer Blindheit gegenüber dem eigenen System verbunden. Lange litten die
Bürgerrechtler in Ostdeutschland nicht genug am eigenen Land; lange erschien die
Abwanderung in die Bundesrepublik vielen Menschen als einzige Alternative. Dies analysiert
Faktor mit seltener Klarheit und beschreibt eindringlich die Entfremdungsprozesse junger
DDR-Intellektueller vom gesellschaftlichen System der DDR zwischen 1968 und 1989.
Besonders fatal für die Entwicklung der Opposition wirkte sich aus, dass dissidente
Künstler sich zumeist von den politischen Bürgerrechtlern fernhielten, manche wohl auch
unter dem Einfluss von Inoffiziellen Mitarbeitern des MfS die repressive Realität
ignorierten. Faktor schildert, dass in der CSSR nicht nur die Repression, sondern auch die
Angst viel größer war. Hier wie in der DDR spielten aufmüpfige Rockmusiker eine große
Rolle, einzigartig in Ostdeutschland war jedoch, dass Teile der evangelischen Kirche
oppositionelle Gruppen unterstützten. Annette Simon geht der Frage nach, warum sich so
viele Ostdeutsche bis heute fremd in der Bundesrepublik fühlen. Ihr Schluss ist, dass die
politischen und sozialen Strukturen der alten Bundesrepublik 1990 zu schnell und zu
umfassend übertragen wurden und die Führungspositionen in Staat und Gesellschaft nahezu
ausschließlich von Westdeutschen besetzt wurden. Dazu kommt, dass bis heute die
Anerkennung für die Leistung der ostdeutschen Selbstbefreiung bis auf symbolische Akte
weitgehend ausblieb. Das wird auch dadurch nicht aufgewogen, dass viele Ostdeutsche
persönlich hinzugewonnen haben. Allerdings darf es im Jahre Elf der deutschen Einheit
nicht bei diesem Befund bleiben, sondern es muss konkret darüber gesprochen werden, wie
das Gewicht des Ostens erhöht werden kann. Unabdingbar ist jedenfalls, dass Bevormundung
aus dem Westen aufhört und diejenigen Dinge, die im Osten zu erledigen sind, auch dort
bewältigt werden.
In weiteren Beiträgen setzt
sich Jan Faktor mit dem Problem der Zweisprachigkeit in seinem Schaffen als Schriftsteller
auseinander; Annette Simon beschreibt das Innenleben der DDR-Psychologie. Auch hier
stoßen die beiden Autoren auf ein Kernproblem: Die Errungenschaften von 1989, Freiheit
und Individualität, müssen heute gegen gesellschaftlichen Konformitätsdruck gewahrt
werden. Ansätze dazu gibt es u. a. im Politisierungsprozess von Künstlern in den letzten
Jahren. Aber dies ist zu wenig: Letztlich geht es um das gesellschaftliche Engagement der
Ostdeutschen, oder, wie Faktor meint, darum, radikaler zu leben, sich mehr zu trauen und
mehr zuzutrauen. Dies ist auch eine Voraussetzung für die Überwindung von Fremdheit und
Missverständnissen zwischen Ost und West. |
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